Glauben – Brüche und Anknüpfungspunkte: Maarten t´Hart, Der Flieger
Am Anfang habe ich mich nur durchgebissen. Später mit zunehmender Neugier das Mäandern eines Totengräbers um Leben, Religion und die Normalität des Todes – beschrieben aus der Sicht seines pubertierenden Sohnes – beobachtet. Ich ertappte mich dabei als Spannerin in einer Welt der Spanner und Überkontrolleure. Mir, die ich in einer friedensbewegten und freiheitsliebenden Gemeinde der 70er und 80er aufwuchs, sehr fremd: diese urcalvinistische Welt einer niederländischen Kleinstadt und darin der „orthodox-reformierten“ Gemeinde in den 50ern. Doch aus Gesprächen mit Menschen, die ebenfalls in den 50ern aufwuchsen, ist mir dieses Gefühl von Enge und Kontrolle und in manchem Fall von Bigotterie (nicht nur) durch kirchliche Vertreter haften geblieben.
Wie habe ich es durchgehalten, der Leidensgeschichte von Ginus, dem tiefgläubigen Hilfstotengräber – nein Grabmacher – beizuwohnen, der nicht „weiterlernen“ durfte und dabei die Bibel besser kennt als alle Pfarrer und Presbyter zusammen. Er leugnet die Notwendigkeit, dass Jesus für unsere Sünden sterben musste und zieht reihenweise Bibelbeweise heran, um zu zeigen: wenn wir vergeben, dann vergibt Gott. So sein Credo. Ein allmächtiger Gott braucht den Tod seines Sohnes nicht zur Vergebung der Sünden. Damit sind wir bei einer Frage, die viele heute umtreibt und befremdet. Sein Vorgesetzter und einziger Freund, der Vater des Erzählers, begleitet ihn in diesem Kampf mit der Kirchengemeinde, ist zugleich Voyeur, gibt selbst kein Bekenntnis ab.
Das Drama ist nur auszuhalten, weil es mit dem Humor des Geschichten erzählenden Grabmachers durchsetzt ist. Der hat die ganze Zeit mit einer Anfrage von katholischer Seite zu tun, ob er nicht den katholischen Friedhof umsetzen könne. Skurril auch die Figur des Rampenne, eines Taubstummen, dessen weiße Kommunikationszettel immer wieder zwischen den Gräbern herumfliegen. Genauso wie der zahme Reiher. Anrührend die Hilflosigkeit eines pubertierenden Jugendlichen, der sich durch die Leiden der Jugend nur mit Bergen von Büchern – natürlich streng geheim aus der römisch-katholischen Bibliothek retten kann.
Der Epilog, nach einem Viertel Jahrhundert löst so manches Rätsel und wirft neue auf. Er macht mir noch einmal die Bedeutung der jeweiligen religiösen Sozialisation deutlich.
Was wir in der Kindheit und Jugend mit Religion erlebt haben, prägt uns unweigerlich. Manches Erlebte lässt sich nur durch den Bruch mit dieser Ursprungsheimat integrieren.
Viele beginnen, wie Maarten t´Hart in ihren 50ern darüber nachzusinnen, wo es Anknüpfungspunkte gibt, wo Versöhnung möglich ist. Aber auch die Frage bewegt,
welche religiösen Neuanfänge in Frage kommen. Das genau ist die Zone, in der ich mich als religiöser Mensch und Seelsorgerin am liebsten bewege. Darum noch ein paar Fragen an Sie:
– Haben Sie so etwas wie eine religiöse Heimat?
– Was trägt sie von dort her weiter bis heute?
– Womit mussten Sie brechen?
– Und wohin zieht Sie Ihr religiöses Fragen heute?
Ich gebe es zu. Keine leichte Kost, keine leichten Fragen. Aber lohnend – genauso wie die Lektüre „Der Flieger“.
Maarten t´Hart, Der Flieger. Roman bei Pieper
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