Der alte König – ein achtsames Buch über Menschen und Demenz
Buchbesprechung zu Arno Geiger, Der alte König in seinem Exil
„Man braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind großzuziehen“, sagte einmal eine Freundin zu mir. Und nachdem ich dieses Buch gelesen habe, muss ich sagen: „Es braucht auch ein ganzes Dorf um einen alten Menschen (mit Demenz) bis zum Ende zu begleiten.“
Warum setze ich „mit Demenz“ in Klammern? Weil der Mensch im Vordergrund steht. Die Person, die Arno Geigers Vater jetzt ist, mit aller Würde, die einem Menschen bis zum Lebensende zusteht. Und auch wenn Arno Geiger von der Krankheit Demenz spricht, so gibt er dem Phänomen in den Schilderungen der Erlebnisse mit seinem Vater doch eine wesentlich weichere Seite. So lernt er – und wir mit ihm – viel darüber, dass ein Leben immer einen Wert hat.
Eigentlich sollten alle dieses Buch lesen. Dann könnten wir einen Großteil der Lektüre über Validation, Aktivierung, Pflegenetzwerke, Verarbeitung des Erlebnisses als Kind vom Vater nicht mehr erkannt zu werden etc. beiseite legen. In seiner Erfahrung war die Zeit besonders schwierig , bevor allen Kindern und Nachbarn klar war, dass sich der Vater wegen der Demenz anders oder genauso wie früher nur schlimmer verhält. Rätselhafte skurrile Dickköpfigkeiten, nervende Tatenlosigkeit und die Frustration darüber lösen sich erst dann auf, als die Familie versteht, dass der Vater erkrankt ist.
Die Suche nach Heimat als Symbol für Demenz
Arno Geiger geht auf eine spannende Spurensuche in die Vergangenheit seines Vaters und findet vorsichtig Bezüge zu seinem Jetzt. Als 18 jähriger erleidet August die letzten Kriegstage, überlebt nur eben so eine traumatische Krankheit im Gefangenenlager und wird nach einem langen leidvollen Weg nach Hause, eben dieses nie mehr verlassen wollen. Und nun: obwohl im er im selbstgebauten Haus wohnt, sucht er seine Heimat. Diese Suche kennen viele Menschen, die mit Demenz leben. Der Vater, der nie dort weg wollte, ist im eigenen Heim nicht mehr daheim. Und vielleicht ist Demenz für viele dies: ein Verlorengehen in der eigenen Welt. Und vielleicht ist die beste Begleitung die, der es gelingt, einem Menschen das Gefühl zu geben, hier zumindest nicht ganz verkehrt zu sein.
Demenz gehört in die Gemeinschaft
Die Begleitung und Pflege, die Geigers Vater zugute kommt, ist durch eine große Familie und ein Dorf gestützt. Viele LeserInnen werden sagen – ja so ein Netz haben wir nicht. Wir müssen das alleine schaffen. Dass das im Grunde nicht leistbar ist, zeigt dieses Buch, denn bei aller Liebe und Geduld brauchen die BegleiterInnen doch immer wieder Pausen. Was für eine Erleichterung wäre es für alle Pflegenden, wenn die Vergesslichkeit und die Heimatlosigkeit als etwas Normales verstanden würde, etwas vor dem man keine Angst haben muss. Wir müssen vielleicht etwas kreativer werden, um Menschen mit Demenz eine Heimat bieten zu können.
„Der tägliche Umgang mit ihm glich jetzt immer öfter einem Leben in der Fiktion. Wir richteten uns in all den Erinnerungslücken, Wahnvorstellungen und Hilfskonstruktionen ein, mit denen sein Verstand sich gegen das Unverständliche und die Halluzinationen wappnete. Der einzig verbliebene Platz für ein Miteinander, das sich lohnte, war die Welt, wie der Vater sie wahrnahm.“ (S.117)
„Gespräche mit ihm waren eine gute Gymnastik gegen das eigene Einrosten. Sie erforderten ein beträchtliches Maß an Einfühlungsvermögen und Phantasie, denn im besten Fall gelang es durch ein richtiges Wort und eine richtige Geste, die Unruhe für einige Zeit zu beseitigen.“ (S118-119)
Demenz darf keine Privatsache bleiben
Für mich ist Arno Geigers Buch daher auch ein Plädoyer, Demenz in größeren Zusammenhängen zu sehen und nicht länger als Privatsache in die Ecke zu stellen. Die Aktion Demenz ruft dazu auf, Menschen mit Demenz zuallererst als Mitbürgerinnen und Mitbürger zu verstehen und ihnen einen Lebensraum zu gestalten, in dem auch andere sich nicht mehr so verloren fühlen müssen.
Arno Geiger trägt dazu bei. Und darum gibt das Buch Hoffnung. Er lässt das Ende offen. „…ich wollte über einen Lebenden schreiben, ich fand dass der Vater, wie jeder Mensch, ein Schicksal verdient, das offenbleibt.“ (s.189)
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