Der Blog für die zweite Lebenshälfte

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„Lehre uns bedenken…“ – Das Gute einsammeln

Veröffentlicht in: Allgemein, Endlichkeit, Ideen für Gruppen

Von Herrn Jestädt habe ich das Schreiben gelernt. Er war mein Klassenlehrer in der vierten Klasse. In meinen Augen war er uralt. Vielleicht Mitte 50? Ständig mussten wir Aufsätze schreiben. Ich sehe mich noch, wie ich eines Abends am runden Esszimmertisch – heulend – saß und schrieb, weil ich die Hausaufgabe vergessen hatte. Einen Aufsatz. Ich weiß nicht mehr was und wie ich schrieb. Ich weiß nur: ohne diese ständigen Übungen von Herrn Jestädt wäre mein Schreiben nicht so in Schwung gekommen. Später im Gymnasium flossen die Worte leicht aus meinem Pelikanfüller. Heute liebe ich das Schreiben. Ich mochte Herrn Jestädt gern. Er hatte in gutes Herz. Von ihm beim Wandern gelernt, singe ich immer noch ein Kettenlied, das so losgeht: „Eins will ich singen, grüner grüner Haselstrauch…“
Herr Jestädt tat was er liebte und beeinflusste damit mein Leben auf gute Weise.
Wer weiß, was wir alles durch unser So-wie-wir-nun-mal-sind-Sein und Tun bewirkt haben? Weil wir einem Kind ein Märchen erzählt, der russischen Putzhilfe einen amtlichen Brief aufgesetzt haben, bei der Tafel-Lebensmittelausgabe mit einem Kunden schäkerten, ein Manifest schrieben oder ein Lied, das Nachbarskind liebevoll begrüßten, dem langsamen Herrn an der Aldi-Kasse einen Euro schenkten…
Mir kommen diese Gedanken nachdem ich eine (äußerst gut lesbare!) Auslegung von Psalm 90 durch den Alttestamentler Frank Crüsemann gelesen habe. Er half mir, aus dieser lakonisch-depressiven Stimmung von Vers 10 heraus zu kommen „Unser Leben währet siebzig Jahre und wenn´s hoch kommt, so sind´s achtzig Jahre, und was daran köstlich scheint, ist doch nur vergebliche Mühe; denn es fähret schnell dahin als flögen wir davon.“ Dieser von Martin Luther so prägend übersetzte Vers kommt im hebräischen Original etwas milder daher. Psalm 90 setzt uns in unserer Lebensernte laut Crüsemann auf drei Spuren:
Das Leben ist kurz – auch wenn es heute eher achtzig bis hundert Jahre dauert. Also kosten wir lieber den Moment mit Genuss und Lebenslust, als uns dem Jammern über unsere Vergänglichkeit hinzugeben.
Der Psalm bittet Gott um ein Gleichgewicht von Unglück und Glück. Wenn wir uns erinnern, dann mögen auch wir dieses Gleichgewicht suchen.
Die Arbeit unserer Hände möge Gott fördern: das betrifft nicht nur die Erwerbsarbeit, sondern unser alltägliches Sein und Tun mit Herz, Mund und Händen. Wie schön, sich vorzustellen oder gar gesagt zu bekommen, dass wir bei anderen etwas Gutes angestoßen haben. Wie Herr Jestädt, der mir das Schreiben ins Herz legte.

Die absolut lohnende Auslegung von Crüsemann (nur 4 Seiten) finden Sie hier.


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