Erinnern – vergessen … Erinnert!
Kritzeln Sie sich auch manchmal etwas auf die Hand, wenn Sie es nicht vergessen wollen? Am besten ist da ein feiner Filzstift. Dann ist es bei der nächsten Handwäsche nicht gleich verschwommen. Ich hab da Erfahrung…
Es gibt Leute, die erinnern sich an alles. An jedes kleine bisschen: was man damals gegessen hat, was die Tante Soundso immer anhatte und sagte, was in der Zeit politisch los war und wie die Blümchentapete roch. Die erzählen das auch alles.
Und dann gibt es die Leute, die erinnern sich, reden aber nicht drüber.
Und es gibt die Leute, die vergessen das meiste. Zu denen gehöre ich. Ich erinnere mich höchstens, wie ich mich an jenem Tag gefühlt habe, vergesse aber in der Regel die Namen und wo genau das war. Ich kann mir weder Zahlen noch Fakten auf Dauer merken. Ganz gleich, ob ein Erlebnis schön oder nicht schön war. Das ist lästig. Es hat aber auch seine Vorteile. Man kann jederzeit neu anfangen.
Der November ist der Erinnerungsmonat. Kollektiv erinnern wir uns an die Verbrechen der Nazizeit, an das Leiden der Opfer. Wir erinnern uns an die Leiden, die die Weltkriege verursachten und deren Folgen in den Familien bis heute nachhallen. Wir erinnern uns an unsere Toten.
Es ist verflixt heikel mit dem Erinnern: Die Details von damals können unterhaltsam oder nervig sein – je nachdem, wie oft man sie zu hören kriegt. Bohrt man ständig in den alten Wunden herum, hören die Schmerzen vielleicht nie auf. Vielleicht sollen sie auch nie aufhören? Aber manchmal macht das Erinnern auch heil und bringt Friede in den Körper. Manches dürfen wir nicht vergessen, weil es uns wach und aufmerksam hält. Manches müsste mal auf den Tisch, damit man befreiter weiterleben kann. Und manche Erinnerung stärkt uns auch, wenn wir uns zum Beispiel gegenseitig erzählen, wie ein Mensch für uns war, was wir von ihr gelernt haben, was er uns als Vermächtnis mitgegeben hat.
Als grundsätzlich Vergessliche habe ich die Befürchtung, dass mit dem Vergessen vielleicht auch etwas Wesentliches verloren geht. Denn mit den vielfältigen Erinnerungen tragen wir auch unsere Werte weiter, das, was uns wichtig ist, was wir zum Wohle aller gelernt haben, wie wir unser Leben gestalten, was uns Kraft gibt. Kann man sein Leben vergessen, das was wirklich wichtig war und ist? Braucht es die Details von Kaffeeduft, Blutgeschmack und Anzugfarbe oder reicht ein ungefähres Gefühl? Ich weiß es nicht. Vielleicht weiß ich es, wenn ich alt bin. Ich kann mir doch nicht alles auf die Hand schreiben.
In meiner Arbeit rund um das Erinnern und Vergessen habe ich etwas Erstaunliches entdeckt. Prophet Jesaja beschreibt Gottes Hände wie eine Tontafel, in die Gott sein Volk einritzt. Zur Zeit Jesajas gab es ja keine Datenspeicherung, keine Erzählcafés und keine Tagebücher. Was von großer Bedeutung war, wurde in Tontafeln eingekerbt, gebrannt und auf diese Weise halt- und erinnerbar gemacht. Jesaja schreibt (Jes 49, 14-16b): „Zion sagt: Gott hat mich verlassen, Gott hat mich vergessen.“ Und Gott antwortet: “Kann denn eine Frau ihr Kindlein vergessen, eine Mutter ihren leiblichen Sohn? Und selbst wenn sie ihn vergessen würde: Ich vergesse dich nicht. Sieh her: Ich habe dich eingezeichnet in meine Hände.“ Unvergesslich bei Gott – ein ganzes Volk. Näher geht es fast nicht. In Gottes Händen. Vielleicht gibt das Kraft zum Erinnern, so gehalten und erinnert zu sein. Vielleicht bleiben so auch die Geschehnisse präsent, die wir nicht vergessen dürfen. Vielleicht darf ich dann auch vergessen, sogar mich selbst.
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