Der Blog für die zweite Lebenshälfte

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Die zauberhafte Welt des Rollators: „Mobilität, Funktionalität, Souveränität“!

Veröffentlicht in: Älterwerden (im Selbstversuch), Ideen für Gruppen, NACHmachBAR

Die zauberhafte Welt des Rollators: „Mobilität, Funktionalität, Souveränität“! Besucherinnen und Besucher des Psychosozialen Zentrums Rosengarten (PSZ) in Schlüchtern haben sich mit dem Thema Rollator und seinen vielfältigen Facetten künstlerisch beschäftigt. Im Atelier 7 als Bestandteil der Tagesstätte wird wöchentlich sowohl kunsthandwerklich und als auch künstlerisch gearbeitet. Zurzeit sind die Arbeiten im Main-Kinzig-Forum in Gelnhausen zu sehen.

Künstlerische Leitung: Luc Laignel, Leitung des Ateliers: Katja Kuß
Ich hoffe, wir können daraus eine Wanderausstellung machen. Bitte beachten Sie: die Bilder, die hier im Blog erscheinen sind nicht zur weiteren Veröffentlichung freigegeben. Bildrechte erfragen Sie bitte beim PSZ mit Hinweis auf Atelier 7 : info@psz-rosengarten.de

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Meilenstein
Diese kleine Ausstellung – ich sage es bewusst gleich zu Anfang in großen Worten – ist ein Meilenstein in der Beschäftigung mit Gebrechlichkeit und der Abhängigkeit von Hilfsmitteln, die uns als Brücke aus der Isolation helfen können. Über den Weg der Kunst können wir uns den Tabus des Älterwerdens freier nähern. Denn künstlerisches Tun verlangt einen sehr aufmerksamen Blick, ein genaues Hinsehen, um das Wesen von Menschen und Dingen zu erfassen. Kunst entsteht dann, wenn diese Genauigkeit sich in der Freiheit des Ausdrucks niederschlägt. Im Unterschied zur Hobbykunst, die sich oft darin versucht, Dinge genau richtig abzuzeichnen oder –zumalen, geschieht in der Kunst eine Verwandlung. Man macht sich die Welt im künstlerischen Ausdruck zu Eigen und erhält dadurch eine neue Sicht auf die Welt. Und genau das ist in den Arbeiten der Gruppe „Atelier 7“ geschehen. Sie zeigen Innovation und das künstlerische Spiel mit einem gesellschaftlich stigmatisierten Objekt.

Unterwegs mit Mercedes oder superpeinlichem Teil?
Ich widme diese Gedanken Elisabeth Rübel, der alten Dame, die bis zu Ihrem Tod im vorvergangenen Jahr täglich auf dem steilen Kopfsteinpflaster von Genhausen unterwegs war, um ihren Geschäften nachzugehen und Menschen zu treffen: mit ihrem Mercedes. Dies war ein relativ schickes Modell, ein in schwarz gehaltener breiter Rollator mit allem, was man so braucht: Korb für die Einkäufe, Sitzfläche, Bremse. Sie fand das Teil toll, weil sie damit ziemlich gut durch diese alles andere als barrierefreie Stadt kam. Sie war die erste, die mir die Augen öffnete für die notwendige Bewusstseinserweiterung in Sachen Mobilität und Kreativität im Alter. Denn seien wir mal ehrlich. Die Dinger sind unsexy. Sie sind unmännlich. Ich sehe so gut wie nie Männer mit Rollator auf den Straßen! Rollatoren machen alt. Man riecht förmlich die Gänge eines Pflegeheims, wenn man so ein Teil sieht. Haben Sie schon mal einen angefasst? Auch die moderneren Exemplare sind genauso peinlich wie ihre Hightech-Geschwister unter den Kinderwagen. Man könnte also skandieren, der Rollator sei das Symbol des demografischen Wandels. Aber in dem Sinne von „O Gott, die Welt wird ja so alt.“

Die zauberhafte Welt des Rollators: „Mobilität, Funktionalität, Souveränität“! Dekonstruktion des Tabu-Objekts
Wird also Zeit, das gute Stück mal einer gründlichen Dekonstruktion zu unterziehen. Als philosophisches wie ästhetisches Unterfangen wird uns dies in Blau-weiß-rot in einer Collagearbeit mit dem Titel „Mobilität, Funktionalität, Souveränität“ vor Augen geführt. Genaues Hinsehen enthüllt Rollatoren und Ausschnitte von Rollatoren, sozusagen die Körperteile des Objekts. Fotografien von Griffen, Korbmustern, Roll-Füßen werden seriell und zu Mustern zusammengesetzt. Das Objekt an sich verschwindet, Streifen erst von weißer, dann blauer Farbe verwischen das Bild. Das Rot setzt lebendige Akzente. Die Form löst sich auf und findet dadurch neue Formen. Insofern verstehe ich diese Arbeit als Überschrift für die anderen Arbeiten: es ist eine Irritation des Blicks und zugleich eine Aufforderung zum Spiel. Spiel im tiefsten Sinne: sich mit neuen Augen der Alltagswelt hinzugeben und sich das Schwierige gestaltbar zu machen. Mit einem Augenzwinkern erinnern die Farben an die französische Flagge und die Parole der französischen Revolution: Freiheit, Gleichheit, Geschwisterlichkeit. Von den Künstlerinnen und Künstlern des Atelier 7 selbstbewusst umformuliert in: „Mobilität, Funktionalität, Souveränität“!

Die zauberhafte Welt des Rollators: „Mobilität, Funktionalität, Souveränität“!Die Welt erweitern und dadurch verwandeln
Im Atelier 7 wird häufig so gearbeitet, dass künstlerische Vorlagen als Anregung genommen werden. So tun es im Übrigen viele KünstlerInnen, die sich auf andere Arbeiten beziehen, sie zitieren, kopieren und dabei zu ihrem Eigenen machen. Das ist hier auch der Fall. Ein Chagallsches Zimmer mit Aussicht bleibt auch mit Rollator ein Zuhause. In eine Mohnblumenlandschaft nach Emil Nolde gerät ein zauberhafter Elfen-Rollator. Hauchfein zwischen den stark und lebendig herausgearbeiteten roten und violetten Blüten schwebt er in Weiß zwischen Gräsern. Ja – auch die Zauberwelt nutzt dieses Hilfsmittel.Die zauberhafte Welt des Rollators: „Mobilität, Funktionalität, Souveränität“!

Die zauberhafte Welt des Rollators: „Mobilität, Funktionalität, Souveränität“!Wunderbar zugespitzt ist die Arbeitsweise bei „Mona Lisa mit Rollator“. Den meisten von uns ist nur das Lächeln der Dame, das Leonardo da Vinci einfing, in Erinnerung. Wer genau hinsieht, erkennt, dass im Original das schöne Modell in einer ziemlich beunruhigenden zerklüfteten Landschaft mit sich windenden Wegen steht. Die Arbeit greift das den Hintergrund des Originals sehr genau in der Bildaufteilung auf. Die Landschaft wird durch die strenge Symmetrie im Bildaufbau hervorgehoben. Die sorgfältigen kräftigen Striche mit Pastellkreide verwandeln die Vorlage jedoch in eine harmonische Landschaft. „Mona Lisa“ steht genauso selbstsicher da, wie ihr Vorbild. Das Lächeln bleibt geheimnisvoll. Und dann stolpert man über diesen Rollator, der wie ein beiläufiges Accessoire fast ein Eigenleben führt. Tja, auch die Schönen werden älter. Auch sie werden hilfsbedürftig. Aber das tut der Lebensfreude auf diesem Bild keinen Abbruch.

Derselbe Künstler hat ein Landschaftsgemälde von Gabriele Munter zum Vorbild genommen. Er ist dem Bildaufbau treu geblieben. Doch die seltsam windschiefe Leere im Original wird nun von vier Personen verschiedener Größe und mit sieben Rollatoren im bunten Schachbrettmuster belebt. Das Bild ist so lebendig, dass man sich eine Welt ohne Rollatoren gar nicht mehr vorstellen mag. Die Menschen in diesem Bild sind nicht nach herkömmlichen Mustern schön, sondern so bunt und symmetrisch angelegt, dass man nicht anders kann, als ihre Eigen-Art (also ihre ganz eigene gegebene und gewordene Art), ihre Stärke und ihren Mut zu bewundern und zu lieben.Die zauberhafte Welt des Rollators: „Mobilität, Funktionalität, Souveränität“!

 

Die zauberhafte Welt des Rollators: „Mobilität, Funktionalität, Souveränität“! Die zauberhafte Welt des Rollators: „Mobilität, Funktionalität, Souveränität“!Nicht mehr zu bremsen
Überhaupt sind in diesen Bildern besondere Menschen mit Rollator unterwegs. Eine entschlossen blickende Frau im Blumenminikleid mit rot geschminkten Lippen. Barfuß. Mit Sicherheit hat sie auch rot lackierte Zehen. Ihr Rollator changiert zwischen „sichtbar/unsichtbar“ auf einem sehr dynamischen Hintergrund. Diese Frau lässt sich nicht aufhalten!

Eine rothaarige Frau präsentiert sich unübersehbar mit knallgelbem ärmellosem T-Shirt mit der Aufschrift „Route 66“, welche ja als Autobahn in den USA ein Inbegriff der Freiheit in den Weiten der amerikanischen Landschaften ist. Die Räder ihres Rollators sind knallbunt: Blau, Rot, Gelb, Grün, alle Farben quasi mit Ausrufezeichen versehen, was der lebendig-rote Hintergrund noch verstärkt. Dieser Rollator macht die Welt stabil und dadurch lebt diese Frau unübersehbar ihre Freiheit, die sich hier in Mobilität ausdrückt.

 

Die zauberhafte Welt des Rollators: „Mobilität, Funktionalität, Souveränität“!Die Lust am Spiel mit Rollator
Das Versteckspiel mit einem vormals peinlichen Hilfsmittel ist damit vorbei, geradezu aus der Welt gefegt. Und nun haben wir die Freiheit, uns der Form des Rollators zu widmen. So geschehen in über zwanzig kleinen Entwürfen vom Modell „Bobbycar“ über Modell “Baumarkt“, dem Modell „Kaffeemühle“, Modell „Die Welle reiten“ bis zum Modell “Nikolausi“.
Da bleibt kein Wunsch offen und jeder kann nach seiner Fasson mobil, äh, glücklich werden.

Wunderbar auch die Erkenntnis, dass wir zur Erweiterung unseres Radius und zur Entdeckung unserer Beweglichkeit unser ganzes Leben lang Hilfsmittel genutzt haben: vom Kinderwagen zum Bobbycar, über das Dreirad, zum Fahrrad, bis zum Rollator.

Und nun kann der Rollator auch zum Pinsel werden, somit so organisch zum Leben dazugehören, dass wir uns mehr für die Spuren interessieren, die wir im Schnee hinterlassen, als für die Gehbehinderung. Dies war der Anstoß für diese Ausstellung: eine Besucherin des Atelier 7 hatte die Spuren, die ihr Rollator und ihre Füße im Schnee hinterlassen hatten, so interessiert, dass sie die Spuren auf einer Zigarettenschachtel skizzierte und dies später Luc Laignel zeigte. Sehr einleuchtend und in ihrer Abstrahierung befreiend sind diese Spuren nun in rot und grün in der Ausstellung zu sehen.Die zauberhafte Welt des Rollators: „Mobilität, Funktionalität, Souveränität“! Die zauberhafte Welt des Rollators: „Mobilität, Funktionalität, Souveränität“!

Trotz Gebrechlichkeit – „zauberhaft“
Ich will nicht auslassen, dass der Rollator uns auch mit unserer Gebrechlichkeit konfrontiert. Das lässt auch die Ausstellung nicht aus. Ein Exemplar ist in Leinenbinden gewickelt, wie eine einzige Verletzung, die mühsam verbunden wurde. Es ist ein gewaltiger Einschnitt in unserem Leben, wenn uns die Beine nicht mehr tragen wie bisher. Körperliche Einschränkungen sind schmerzhaft, lästig, sie verlangsamen das Leben nicht nur derer, die betroffen sind, sondern auch derer um sie herum, Familie, Pflegende und Gesellschaft. Ich erinnere mich, dass ich vor kurzem beim Aussteigen aus einem Regionalexpress hinter einer Frau festhing, die mit Rollator den hohen Absatz überwunden hatte und nun langsam zum Ausgang vorging. Eine spürbare Ausbremsung meines Alltags – wenn auch nur kurz. Je mehr Menschen mit Rollator unterwegs sind, desto langsamer wird die Welt. Es wird noch eine Weile dauern, bis wir das als Lebensqualität verstehen (nicht zu vergessen, dass der CO2 Ausstoß dieser Mercedesse gegen Null geht).

Bis dahin ist Humor eine gute Möglichkeit, sich der eigenen Einschränkung und damit auch Endlichkeit zu widmen. Da hätten wir das Modell „Friedhofsbesuch“ und das Modell „Weihnachtstraum“ im Angebot. So sieht „Die zauberhafte Welt des Rollators“ aus, ein bisschen in Anlehnung an den Film „Die fabelhafte Welt der Amelie“, die in den 90ern viele Generationen mit ihrem Spiel mit Gartenzwergen und anderen Irritationen des Lebens inspirierte.

Ich gratuliere den Künstlerinnen und Künstler des Atelier 7 sowie Luc Laignel und Katja Kuß zu dieser Ausstellung. Ihre Arbeiten inspirieren, sie öffnen uns die Augen für eine Welt, die nur dann grau bleibt, wenn man für immer auf das blickt, was nicht mehr geht. Stattdessen, geben Sie der eingeschränkten Welt neue Farben und ein Spiel, das das Leben trifft und verwandelt.

Danke, dass Sie uns durch Ihre sorgfältige Beobachtung, Ihre Phantasie und Ihre Vertiefung in die Kunst einen großen Schritt weiter geschoben haben in eine Welt, in der Menschen – ganz gleich wie alt oder fit sie sind – ihr Leben gestalten und immer wieder neue Wege finden.

Und nun sprechen Sie mit mir, laut und mit der Faust in die Höhe:
„Mobilität, Funktionalität, Souveränität“!

Die zauberhafte Welt des Rollators: „Mobilität, Funktionalität, Souveränität“! Die zauberhafte Welt des Rollators: „Mobilität, Funktionalität, Souveränität“! Die zauberhafte Welt des Rollators: „Mobilität, Funktionalität, Souveränität“! Die zauberhafte Welt des Rollators: „Mobilität, Funktionalität, Souveränität“!

Annegret Zander, Fachstelle Zweite Lebenshälfte

 


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2 Kommentare zu “Die zauberhafte Welt des Rollators: „Mobilität, Funktionalität, Souveränität“!”

gabi erne sagt:

Ohhh !!!! ist das wunderbar!
Ich habe mit meiner Mutter einen Rollator gekauft, aber sie hat ihn nie benutzt. Auf dem Land, das ging irgendwie nicht. Und jetzt geht`s auch ohne. Aber er steht ja noch da …….. Wenn ich ihn sehe, an Weihnachten, mit anderen Augen, dann…… nehm ich ihn vielleicht schon mal mit, für später – oder für gleich?
Gratulation zur Idee und Ausstellung und Rede!!!!
Gabi Erne

ebz sagt:

Danke Gabi! Ich habe bei der Ausstellungseröffnung das erste mal einen Rollator benutzt: zum Redepult hingeschoben, drauf gesetzt: sehr praktisch! Wieder zurückgeschoben.
Bin von der Besitzerin des guten Stücks in die Bremsen eingewiesen worden. Der Korb hatte Platz für eine Decke. Wer weiß, vielleicht wird das doch bald eine gängiges Accessoire für unterwegs. Die Einkaufsrollwägelchen haben ja auch schon diese Wandlung hinter sich. Und was waren die Dinger scheußlich früher. Wer weiß, vielleicht rollen wir nächstes Jahr schon performativ über Marburgs Kopfsteinpflaster :-)
Viele Grüße
Annegret

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