Der Blog für die zweite Lebenshälfte

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Sich selber kennen lernen

Veröffentlicht in: Älterwerden (im Selbstversuch)

Sich selber kennen lernenAus Anlass der Verabschiedung  meines Kollegen Dr. Hartmut Wolter im Rahmen einer Hausandacht im Haus der Kirche schrieb unsere Leiterin des Referats Erwachsenenbildung Martina S. Gnadt diese poetischen Worte zum Älterwerden.

„Ich möchte in Beziehungen leben, bis ich tot bin.“ Das sagte meine Freundin Katja, 81 jährig, auf meine Frage, was sie denn nicht missen möchte in ihrem Leben. „Natürlich meine ich Beziehungen mit Gegenseitigkeit und Gleichwertigkeit. Ich bin so oft ein Haufen Elend. Das ist das Alter, dass ich nicht mehr so viel Kraft habe. Ein schleichender Verlust an Kompetenzen… Schau dir die Buschwindröschen an. Die habe ich für dich gepflückt… Aber man muss beim Pflücken eben nicht nur runter kommen, sondern auch wieder rauf.“ „Nix geht mal eben schnell so nebenbei. Für alles brauchst du Zeit… aber ich möchte für meine Freunde immer Bedeutung haben.“
Klaus, 64, kurz vor dem Ruhestand, auf meine Frage, was er denn erwarte oder auch befürchte:  „Vor allem Befreiung – man ist nicht mehr so in den ganzen zeitlichen Zwängen gefangen. Die Qualität der Dinge wird eine andere, wenn man nicht nur erledigen, nicht nur funktionieren muss. Du kannst – unter dem Kirschbaum sitzen und dich dem unmittelbaren Moment hingeben; vielleicht sogar utopische Gefühle entwickeln. Ja, ich freue mich darauf und bin auch gespannt.“ „Natürlich verlierst du deine sozialen Beziehungen. Da ist man dann raus. Aber man hat eben auch Zeit, ganz anderes zu entwickeln; was jetzt immer zu kurz gekommen ist.“ Alter und Altern, Kompetenzen verlieren und Kompetenzen entdecken, Zeit brauchen und Zeit haben, den Wert von Beziehungen für sich neu bestimmen, das Glück der körperlichen Kraft und die Traurigkeit über ihr Nachlassen intensiv empfinden, Neugier auf Veränderung und Ängste vor dem, was man nicht abschätzen kann — wer sich mit der zweiten Lebenshälfte beschäftigt, muss mit den unterschiedlichsten Regungen, Gedanken, Befürchtungen und Erfahrungen von Menschen, denen ihr Alter bewusst wird, umgehen lernen. Dass das Spaß macht, dass man von solchen Begegnungen selber viel hat, das haben Sie, Herr Dr. Wolter, immer wieder vermittelt. Sie haben bei uns im Referat Erwachsenenbildung den roten Faden „Alter/Altern“ aufgeribbelt… und es wurde deutlich, dass daran ganz unterschiedliche Fragen und Themen hängen: Wie kann ich wohnen – wie kann ich leben? Wir sind nicht arm, wir sind lebensreich. Wieviel ist genug? Was brauche ich wirklich? Und nicht zuletzt: Wie wichtig ist gute Normalität: „Ich möchte bis zuletzt in Beziehungen leben – so wie ich das mein ganzes Leben gemacht habe.“ Sich selber treu bleiben können, sich selbst noch einmal von einer ganz anderen Seite kennenlernen und sich dann selber treu bleiben können – das ist doch eine attraktive Vorstellung nicht erst jenseits der Verrentung, nicht erst für später! Aber auch dann… noch… „Ist das denn nicht auch ein Wert, sich Zeit für die Dinge zu nehmen?“ frage ich meine Freundin Katja nicht ganz frei von der Sehnsucht der Ruhelosen. Sie springt nicht darauf an. „Ich will einfach noch ganz viel“, beharrt sie, „und da werde ich oft ganz ungeduldig mit mir.“ Und ich werde verwirrt, weil ich nicht mehr weiß, wer eigentlich die Jüngere von uns beiden ist. Alter – wie ich es noch aus meinen Kindertagen kenne, ist das nicht. Da saß die Oma auf der Bank im Hof, schwarz gekleidet. Da war Tante Emmi komisch. Und den Opa besuchten wir auf dem Friedhof. Später gab es dann Herrn Sonne, meinen alten Deutschlehrer, den ich noch einmal nach seiner Pensionierung besucht habe, einen freundlichen alten Mann, der im Alter noch einmal geheiratet hatte. Ansonsten war mein Altersuniversum eher ein nebulöses Gelände, das erst vor vielleicht 20 Jahren eine neue, eher erschreckende Kontur bekommen hatte: die Alterspyramide. Dass ich selbst einmal zu dem breiten oberen Teil gehören würde, der auf schmalem Fuße balanciert, war mir damals nicht klar. Diffuse Ängste herrschen in diesen oberen Breiten, geschürt von Mythen rund um die Geißel Alter: Da ist die Rede von „Altersarmut“ – Und die Warnung wird laut: „Ihre Rente ist in Gefahr!“ Auf der anderen Seite werben Leute wie der Schauspieler und Entertainer Joachim Fuchsberger für das Alter mit seinem Buch : „Altwerden ist nichts für Feiglinge“ und bietet an: „Vielleicht können wir Alten  mit unseren Erfahrungen für die Jungen so etwas wie ein GPS sein – Achtung, bitte wenden… links oder rechts abbiegen…auf jeden Fall nicht aufgeben!“ Alter und Altern – das deckt heutzutage die ganze Spannbreite zwischen „später Freiheit“ und „Abhängigkeit“ ab. Dies auszuloten und sich dabei zwischen Mythen und Möglichkeiten zurecht zu finden, ist eine Aufgabe, die Sie, Herr Dr. Wolter, zusammen mit Pfarrerin Zander in der Fachstelle Zweite Lebenshälfte wahrgenommen haben – und die Sie auch in Ihrem neuen Wirkungskreis weiter beschäftigen wird. Was möchten Sie nicht missen – aus der Zeit hier, was nehmen Sie mit, was lassen Sie uns zu treuen Händen? Am Übergang, auf der Schwelle stellen sich solche Fragen dem, der weiter zieht und denen, die weiter machen. Gewünscht haben Sie sich, Herr Wolter, für diese Andacht ein Lied, das sich wie ein moderner Schlager anhört: „Ich lebe mein Leben“.  Das Lied als Gedicht, das wir gleich zusammen singen werden hat Rainer Maria Rilke als 24jähriger 1899 in Berlin gedichtet. Es gehört zum ersten Teil seines Stundenbuches, Buch vom mönchischen Leben, und ist beeinflusst von einer längeren Russlandreise und der orthodoxen Religiosität, von Begegnungen mit Pasternak und Tolstoi. Es ist der uralte, ewige Gott, der ihm begegnet ist, eher als Frage denn als Antwort; dennoch kann Rilke auch von Gott sprechen als einem „Nachbarn, den ich manchmal mit hartem Klopfen störe, von dem mich nur eine schmale Wand trennt.“  Das Lied, ein Bekenntnis und ein Suchen „und ich weiß noch nicht…“. Sich selber kennen lernen – in den wachsenden Ringen des eigenen Lebens – ein lebenslanges Lernen, zu dem auch Sie, lieber Herr Dr. Wolter Ihren Beitrag leisten. Sich selber kennen lernen, um sich bei allen innerlichen und äußerlichen Veränderungen selbst treu bleiben zu können – eine spannende Aufgabe für uns alle, liebe Hausgemeinde. Möge Gott seinen Segen darauf legen. Amen

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1 Kommentar zu “Sich selber kennen lernen”

Petra sagt:

Liebe Frau Gnadt, da steckt so viel drin in Ihrer schönen „Abschieds“andacht, dass ich mir Ihre Zeilen ausdrucken werde, um sie immer wieder lesen zu können.

Mit Mitte 50 hab ich nun auch kapiert, dass die zweite Lebenshälfte begonnen hat. „Ich will noch ganz viel“ wie Ihre Freundin sagt und dann der Spagat: kann es jetzt auch mal ruhiger werden? ist manchmal ein reibender Konflikt.
Ein lebenslanges Lernen, das ist sicher auch mein Weg und macht mir Mut, wenn ich Ihre Worte an Dr. Wolter lese. Mut, die Zeichen und die Möglichkeiten anzunehmen, die sich mir in den Weg stellen.

Ihnen, Herr Dr. Wolter, ein frohes Schaffen und einen guten Neuanfang im Sehnsuchtsort Göttingen. Wir sind uns wenigstens ein Mal im EBZ kurz begegnet.

Herzliche Grüße
Petra Schuseil

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