Wunderlich? Ein Blickwechsel auf Demenz
(AZ) In den Silberschmieden (unserer Fortbildung für Ehrenamtliche in der Arbeit mit Älteren) haben wir uns im November mit dem Thema Demenz (Von Sinnen? Wenn Menschen wunderlich werden) beschäftigt. Unser Anliegen: eine Kultur schaffen, in der Menschen so ein dürfen, wie sie gerade sind. Wir üben regelrecht ein, die Welt auch anders sehen zu können.
Dazu schrieb ich folgende Gedanken auf. Am Ende des Textes finden Sie außerdem eine Andacht „Nicht vergessen“ sowie Buch- und Filmtipps zum Thema
Ein anderer Blick auf die Welt – durch Demenz
(AZ) Wissen Sie, wovor Deutsche in Bezug auf ihr Alter am meisten Angst haben? Dass sie ihren Verstand verlieren, also eine Demenz entwickeln. Tja, in den USA fürchten sie sich vor Fettleibigkeit und in Brasilien vor dem vorzeitigen Verlust der Libido. Ich finde, das rückt die Sache mit dem Vergessen schon mal ein bisschen zurecht.
Mehr Zeit
In einer Welt, die uns mit ihren eng geregelten Abläufen, von den Kleinsten bis zu den Ältesten in enge Zeitraster presst, gerät alles durcheinander, wenn uns Unvorhergesehenes aus der Bahn wirft. Vergesslichkeit kann einen ganz schön in Verzug bringen. Was habe ich schon Zeit mit dem Suchen meiner Brille oder anderer nützlicher oder wichtiger Dinge verbracht. Wieviel schwieriger wird es, wenn man beginnt andere Menschen oder gar sich selbst zu vergessen. Reimer Gronemeyer, Soziologe und Theologe (s.u. Buchtipps), meint dazu, dass die Menschen mit Demenz uns als Gesellschaft den Spiegel vorhalten. Sie bremsen die Rasenden aus. Uns, die wir den Terminen, vorgegebenen und selbstgewählten Aufgaben hinterher rennen. Die Erfahrung zeigt: wenn Angehörige und professionelle Pflegende sich Zeit nehmen und auf die Bedürfnisse der Person einstimmen, sind im Ergebnis alle zufriedener. Sabine Bode hat dazu viele Beispiele in ihrem neuen Buch beschrieben (s.u. Buchtipps)
Weniger Kampf
Es fordert unglaublich viel Kraft gegen das, was nicht mehr geht, anzukämpfen. Der „Kampf gegen Demenz“ kann für Betroffene wie Angehörige zum Krisengebiet ausarten, was mit Verletzungen und Schmerzen bei allen Beteiligten einhergeht. Wenn man mit aller Gewalt verheimlicht, was verwirrt, was Angst einflößt und unsicher macht, wird man anderen gegenüber schnell unwirsch, ungeduldig, verletzend. Ein Aufatmen geschieht meist dann, wenn man sich zusammensetzt, über das spricht, was einen bewegt und überlegt, welche Form von Hilfe und Unterstützung man braucht. Dazu braucht es natürlich erst einmal Mut, denn die Sache mit der Demenz ist nach wie vor ein Tabu.
Weniger Tabu
Die Presse um solch kluge Köpfe mit Demenz wie den kirchentagsbekannten Walter Jens haben nicht geholfen, sondern die Ängste verstärkt: seinen Verstand zu verlieren muss das Schlimmste auf der Welt sein. Ich glaube, dass der Weg ins Vergessen ein harter Weg ist. Aber noch härter ist er, wenn niemand drüber redet, wenn man sagt „Ach komm, das ist nur vorrübergehend“, wenn Bekannte sich zurückziehen, weil der Betroffene ja nicht mehr „der Alte“ ist. Was hier hilft, ist das grundsätzliche OK der Gemeinschaft, in der wir leben. Die Aktion „Demenzfreundliche Kommunen“ (http://www.demenzfreundliche-kommunen.de/) arbeitet in diese Richtung. Letztlich ist es so: wenn beim Einkaufen, auf der Straße, im Gottesdienst die Verkäuferin, der Polizist, der Hauptschüler und die Kirchgängerin einem verwirrten Menschen entspannt begegnen können, haben wir ein sicheres Umfeld für Menschen mit Demenz. Das Schlimmste ist, wenn man plötzlich ausgegrenzt wird. Wenn man sich nicht mehr traut, zum Seniorenkreis zu gehen; wenn man nicht mehr wagt, den Vater in den Gottesdienst mitzunehmen, weil er umherwandern könnte.
Reden wir also darüber, informieren wir uns, entspannen wir uns und werden ein bisschen langsamer. (Ausstellungen s.u. geben wunderbare Gesprächsanlässe.) Und außerdem:
Mehr Gefühl
Ich habe den Eindruck, dass Demenz uns etwas zurückschenken kann. Wo der Verstand auswandert, hat das Gefühl mehr Raum. Natürlich in seiner ganzen Bandbreite: die Welt wird bedrohlich, wenn man sich nicht mehr in ihr zurechtfindet. Das klassische Beispiel ist: ein Urlaub in Asien. Sie verstehen kein Wort, können die Zeichen nicht lesen und die Leute verhalten sich merkwürdig. Das kann Unsicherheit und Angst auslösen, bis hin zur Wut, wenn man sich nicht verstanden fühlt.
Aber es kommt auch vor, dass Menschen mit Demenz plötzlich die Freiheit haben, überschwänglich, verliebt, zärtlich zu werden. Sehr eindrücklich hat Pfarrer Eberhard Warns in der Demenz seine Kreativität gelebt. Mit seinem Ausruf „Ich will Freiheit beim Malen!“ (s.u. Buchtipps) hat er sich neue Räume geschaffen, in denen großformatige Bilder entstanden und seine Seele immer wieder Ausdruck jenseits der Worte finden konnte.
In unserer schnellen, rationalen Welt ist es manchmal eine Herausforderung, die eigenen Gefühle wahrzunehmen oder gar bei anderen mitzufühlen. Aber genau das hilft und entspannt meist die Situation von Menschen mit Demenz und ihren Angehörigen: das Gefühl hinter der Botschaft hören, das Gefühl ernst nehmen. Sich daran erinnern, dass die Bedeutung von Wörtern überschätzt wird und…
Mehr Impro
… und dann kommt das Improvisieren: eigentlich sollten wir alle Stehgreiftheater gelernt haben. Das hilft auch sonst ziemlich viel im Alltag. Improvisationstheater hat eine Grundregel: Sag Ja! zu dem, was dir von deinen MitspielerInnen angeboten wird. Und sei es noch so merkwürdig. Zum Beispiel: Eine Person beginnt mit der Idee „Wir sind auf einer einsamen Insel und da hinten kommt ein Krokodil“ – sag Ja! – und springt beide auf den Stuhl, der jetzt mal euer Baum ist und dort singt ihr, was das Zeug hält, weil – Ja! – genau auf dieser Insel Singen die beste Verteidigung gegen Krokodile ist. Schön schräg natürlich.
Es gibt nichts Schlimmeres im Improtheater als Leute, die sagen: Nö, da kommt kein Krokodil. Dann ist die ganze Luft raus und schlimmstenfalls ist die Ideengeberin völlig frustriert…
Auf die oft sehr merkwürdigen „Spielimpulse“ von Menschen mit Demenz mit einem „Ja!“ ins Spiel einzusteigen, hat schon so manche Situation entspannt. Zum Beispiel:
„Die haben meine Handtasche geklaut!“
„Ja ist es denn die Möglichkeit, was sind denn hier für Leute unterwegs!
Schlimm ist das.
Es ist wirklich frustrierend, wenn die Handtasche weg ist, da hat man doch alles drin! Komm, wir gehen sie suchen.“
Am Anfang meiner Improvisationsausbildung habe ich mich immer mal ein bisschen merkwürdig gefühlt und vieles war echt peinlich. Aber das hat sich gegeben. Ein bisschen mehr Spiel, viel mehr Gefühl und mehr Zeit – könnte sein, dass das unsere Welt – auch die mit Demenz – sicherer und entspannter macht.
Linktipp: http://www.aktion-demenz.de/
Spiritueller Impuls: Nie vergessen – In Gottes Hand geritzt
Die Alzheimer – Gesellschaft hat vor Jahren eine Bildergalerie mit über 11000 Händen initiiert. Auf die Handinnenflächen waren mit Kugelschreiber Wörter geschrieben worden. Menschen jeden Alters schrieben auf, was sie auf keinen Fall vergessen möchten. In der Bildergalerie findet man zum Beispiel: „Meine liebe Frau heißt Friedel“, Ich wohne im Wiesenweg“, „29.Mai 9:35 Uhr“, „Lennart & Friedrich“, „Ich bin geliebt“.
Ich schreibe mir ständig wichtige Dinge auf die Hand, weil sie auf meinen Zetteln sicher verloren gingen. Es gibt so viel, was ich nicht vergessen will. Aber was davon ist wirklich wichtig?
Was würden Sie sich auf die Hand schreiben? Was oder wen möchten Sie auf keinen Fall vergessen? Wenn Sie möchten, können Sie es sich jetzt auf die Hand schreiben und zumindest für diesen Tag auf diese Weise mitnehmen.
(Wenn Sie dies mit einer Gruppe machen: Je nach Zeit können sich NachbarInnen darüber austauschen, was sie nicht vergessen möchten, dies kann im Gespräch in der Gruppe aufgenommen werden.)
Im Propheten Jesaja findet sich eine Stelle, in der Gott dasselbe tut:
Zion sagt:
Gott hat mich verlassen,
Gott hat mich vergessen.
(Und Gott antwortet:)
Kann denn eine Frau ihr Kindlein vergessen,
eine Mutter ihren leiblichen Sohn?
Und selbst wenn sie ihn vergessen würde:
Ich vergesse dich nicht.
Sieh her: Ich habe dich eingezeichnet in meine Hände.
(Jes 49, 14-16b)
Was für eine Aussage! Ich und mein Leben, Sie und Ihr Leben, wir sind so wichtig, dass Gott es sich auf die Hand schreibt, allerdings weitaus haltbarer als mit Kugelschreiber. Im Hebräischen bedeutet diese Stelle: Gott ritzt sich in die Hände wie in eine Tontafel. Das war die damals übliche Weise bei Hof, wichtige Daten für die Ewigkeit festzuhalten. Und Gott macht hier etwas, was sonst nur die hohen Beamten für ihre Könige taten: wichtige Informationen in seine Tontafelhand ritzen.
Bei Gott bin ich unvergessen. Auch wenn ich mich selbst vergesse oder die, die ich liebe oder das, was mir wichtig ist. Es ist bei Gott nicht verloren, ich bin bei Gott nicht vergessen. Sondern auf immer erinnert und aufgehoben.
Alzheimer- Bildergalerie: www.helfen-nicht-vergessen.de
Materialien zum Thema Demenz
Buchtipps
* Reimer Gronemeyer, Das 4. Lebensalter: Demenz ist keine Krankheit
*Sabine Bode, Frieden schließen mit Demenz
* Anemone Rüegg u.a., Tragendes entdecken, Spiritualität im Alltag von Menschen mit Demenz, Theolog. Verlag Zürich
Graphic Novels
* Paco Roca, Kopf in den Wolken
* Sarah Leavitt, Das große Durcheinander, Alzheimer, meine Mutter und ich, Belz – Verlag
Filmtipps (alle bei der Evangelischen Medienzentrale, Kassel erhältlich)
www.medienzentrale-kassel.de
Miriam ZablewskiMiriam Zablewski
Medienberatung, -verleih
Tel.: 0561 / 9307-160
miriam.zablewski@ekkw.de
Film von David Sieveking: Vergiss mein nicht http://vergissmeinnicht-film.de/ (ca. 90 min)
Der junge Regisseur erzählt von seiner Mutter, die an Demenz erkrankt, und wie sein Vater und die ganze Familie sie begleiten. Eindrücklich auch die Rückblicke in die jungen Jahre der Eltern, gestandene „Alt 68er“.
Kurzfilm von Till Endemann: Vergissmeinnicht (ca. 15 min)
Vergissmeinnicht ist ein leiser, stiller Film über eine Liebe die jeden Tag neu wächst, da sie keine Erinnerung kennt. Es ist nicht nur ein Film über Erinnern und Vergessen, Zeit und Zeit-losigkeit sondern auch darüber, dass Liebe jeden Tag neu wachsen kann. Und dadurch ist der Film auch ein Stück kinematografische Poesie.
Kurzfilm: Apfelsinen in Omas Kleiderschrank (ca. 20 min)
Demenz aus der Sicht eines Jugendlichen, dessen Großmutter in der Familie lebt. Informativ, ehrlich, guter Gesprächseinstieg.
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