Gemeinden gestalten Nachbarschaft
Jens-Peter Kruse, Vorsitzender der EAFA und Mitglied des Fachbeirates für unsere Fachstelle, widmet sich im aktuellen Newsletter der EAfa der Frage, was eine aktivierte Nachbarschaft leisten kann, welche Erwartungen an sie berechtigt sind und: welche Rolle und Bedeutung die Kirchengemeinden in diesem Zusammenhang haben können, um dem demografischen Wandel und die sich abzeichnenden Brennpunkte einer präventiven Sozialpolitik weiter in den Blick zu rücken.
Gerne veröffentlichen wir hier seine Gedanken zu diesem hochaktuellen Thema:
Gemeinden gestalten Nachbarschaft-Menschen in der unmittelbaren Nähe gewinnen an Bedeutung
Von Beginn an leben Menschen in Nachbarschaften. Ob nahe oder ferne, vertraute oder unbekannte, anteilnehmende oder auf Distanz bedachte, frei gewählte oder zufällige – Nachbarn haben alle. Die meisten Menschen wünschen sich als gute Nachbarn: Menschen, die grüßen, freundlich und achtsam sind, die Post annehmen, die Blumen in der Urlaubszeit gießen, den Zweitschlüssel aufbewahren und im „Notfall“ um Hilfe angefragt werden können. Nachbarschaften gewinnen gerade im Alter für eine selbständige Lebensführung und das individuelle Wohlbefinden an Bedeutung. Für viele Ältere sind die Nachbarn ihrer räumlichen Nähe nach den Verwandten und Freunden die wichtigsten Kontaktpersonen.
Zukünftig wird die Bedeutung der Nachbarschaft wachsen. Schon heute leben viele Ältere allein. Ihre Kinder und Angehörigen wohnen oft nicht in unmittelbarer Nähe. Auch deshalb werden nachbarschaftliche Unterstützung und ein Gemeinschaftssinn unter nicht verwandten Menschen wichtiger. Die „Solidarität muss über die Familiengrenzen hinausgehen. Es gilt deshalb, älteren Menschen neue Wege für Selbst- und Mitverantwortung in der Zivilgesellschaft zu ebnen.“ (6. Altenbericht der Bundesregierung, Seite 271)
Untersuchungen wie der Freiwilligensurvey zeigen, dass es insbesondere bei den Älteren eine wachsende
Bereitschaft gibt, sich im Nahbereich zu engagieren. Ihre Bereitschaft zum Engagement erwächst aus der Motivation, für sich und andere mit anderen zusammen den unmittelbaren Nahbereich zu gestalten. Dies gilt es für die Kirchengemeinde zu nutzen. Sie sollte Menschen, die in Nachbarschaftsprojekten mitarbeiten, dabei unterstützen, ihre eigenen Anliegen mit anderen umzusetzen.
Nachbarschaft braucht Zeit
Nachbarschaften sind sensible Gebilde. Zum einen gilt es die Distanz-Norm, ein wohlausgewogenes Gleichgewicht von Nähe und Distanz, zu wahren und distanzloses Einmischen, Neugier und Geschwätzigkeit zu vermeiden. Zum anderen basieren Nachbarschaften bis heute auf dem Prinzip der Gegenseitigkeit: Sie leben von einem ausgeglichenen Verhältnis von Geben und Nehmen. Nachbarschaftliche Hilfe ist eher Nothilfe. Wer sie in Anspruch nimmt, tut dies kurzfristig und ausnahmsweise und möchte nicht, dass daraus Verbindlichkeiten entstehen. Darum sollen auf Dauer die von Nachbarn erbrachten gegenseitigen Leistungen gleichwertig sein, damit niemand dem anderen etwas schuldig bleibt. Gerade für ältere Menschen ist diese Vorgabe aber nicht ohne weiteres zu erfüllen. Nicht selten werden deshalb aus Scham notwendige Hilfeleistungen nicht in Anspruch genommen.
Während in den Dörfern engere nachbarschaftliche Beziehungen auch heute noch oft selbstverständlich gelebt werden, sind sie in den Städten eher durch höfliche Zurückhaltung oder gar einen bewusst eingehaltenen höflichen Abstand gekennzeichnet. Gerade ältere Menschen, die ihre weniger werdenden sozialen Kontakte sorgfältig auswählen, brauchen oft eine längere „Anlaufzeit“, um sich dem Nachbarn zu öffnen. In der Regel ist eine längere gemeinsame Wohndauer nötig, damit nötiges gegenseitiges Vertrauen und Sympathie wachsen können.
Schließlich beruht die gegenseitige nachbarschaftliche Hilfe und Unterstützung auf dem Prinzip der Freiwilligkeit und ist nicht einzufordern. Von Dauer ist sie nur dann, wenn sie von beiden Seiten als positiv erlebt wird.
Damit aus einer räumlichen Nähe soziale Nachbarschaft werden kann, sind neben einem Wunsch nach gegenseitiger Hilfe und Unterstützung auch gemeinsame Interessen, übereinstimmende Verhaltensnormen wie auch Ähnlichkeiten der sozialen Lage und des Lebensstils hilfreich.
Aktive Nachbarschaften sind sozialer Kitt
Aktive Nachbarschaften entstehen nicht selten selbstorganisiert. Sie entwickeln sich vor allem dort, wo Menschen Gemeinsinn leben und sich für ihre Belange engagieren. Viele dieser informell entstandenen Nachbarschaften blühen im Verborgenen. Nicht selten gehen Nachbarschaftsprojekte auf die Initiative von Kirchengemeinden, Kommunen oder Vereinen zurück. Als ein Experimentierfeld für neue Formen des Zusammenlebens wirken sie als sozialer „Kitt“ und leisten einen wichtigen und wertvollen Beitrag für das Gemeinwesen und die Entwicklung einer Zivilgesellschaft.
Tragfähige nachbarschaftliche Beziehungen und verlässliches Miteinander sind – wie gesagt – besonders für ältere Menschen wichtig. Viele Ältere sind deshalb sowohl Initiatoren als auch Mitwirkende sowie Nutzende von Nachbarschaftsprojekten. Diese ermöglichen Älteren ein längeres selbstständiges Wohnen in den eigenen vier Wänden wie auch die Teilhabe am sozialen Leben. Für Kirchengemeinden ist Nachbarschaftsarbeit aber auch deshalb wichtig, weil sie älteren Menschen die Chance eröffnet, ihre Kompetenzen, Potenziale und Zeitressourcen für die Allgemeinheit einzubringen und an der Gestaltung des Wohnquartiers aktiv teilzuhaben. Zukunftsweisend sind vor allem Projekte, die generationenübergreifend das Miteinander im Nahbereich fördern.
Es gibt viele Möglichkeiten, einander zu helfen
Nachbarschaftsprojekte können professionelle Hilfe nicht ersetzen – wohl aber ergänzen. Denn im Vordergrund stehen nicht Pflege und Betreuung, sondern Kontaktpflege und Zuwendung, kleine Hilfsdienste und kleinere Unterstützungsleistungen. Eine beliebte Form unter älteren Menschen ist zum Beispiel die morgendliche Telefonkette, um zu hören, ob es dem anderen gut geht oder Hilfe benötigt wird. Zu nennen sind weiterhin Einkaufshilfen, Verabredungen zu gemeinsamen Spaziergängen, ein regelmäßiger Besuchsdienst, ein gemeinsamer Mittagstisch oder ein Frühstückstreff im Häuserblock oder Haus- und Straßenfeste.
Wie beginnen?
Kirchengemeinden, die in die Nachbarschaft investieren wollen, sollten vorab mit Menschen aus der Zielgruppe folgende Fragen diskutieren:
Was sind unsere Ziele? Was soll bei uns konkret getan werden?
An wen richtet sich das Angebot? Wird es auf Interesse stoßen?
Wer wird sich im Projekt engagieren? Wie können Menschen für das Vorhaben gewonnen werden?
Welche Arbeitsformen, Verantwortlichkeiten und Begleitungen sind erforderlich? Wer ist für was zuständig?
Welche personellen und finanziellen Ressourcen stehen zur Verfügung?
Warum Nachbarschaftsarbeit für die Kirchengemeinde von Bedeutung ist
Das Ziel der Nachbarschaftsarbeit, die Kontakte der Menschen im direkten Wohnumfeld zu fördern und gegenseitige Alltagshilfen zu organisieren, ist mit den diakonischen Zielen einer Kirchengemeinde eng verbunden. Schon deshalb sollte die Gemeinde die Renaissance der Nachbarschaftsarbeit für eine Neuorientierung und Weiterentwicklung ihrer Seniorenarbeit nutzen. Eine lebendige Nachbarschaftsarbeit bietet ihr die Chance,
– die jungen Alten als neue Zielgruppe zu erreichen.
– ihr diakonisches Profil zu schärfen und den Bedürfnissen der Menschen in unterschiedlichen Lebenssituationen gerecht zu werden.
– Zugangsschwellen abzubauen und sich im Quartier besser zu vernetzen.
– als verlässlicher und bedeutungsvoller Partner im Sozialraum wahrgenommen zu werden.
Was noch zu bedenken ist
Vor allem in den Großstädten entstehen neue funktionierende Nachbarschaftsprojekte in der Regel nicht von allein. Hier bedarf es eines Anstoßes von außen und einer externen Begleitung. Als Alternative zu der gerade hier häufig anzutreffenden Isolation ist es oft notwendig, eine aktive Nachbarschaft zusammen mit Verbänden, Vereinen oder der Kommune zu organisieren. Kirchengemeinden, die mit der Nachbarschaftsarbeit beginnen wollen, sollten die folgenden Tipps bedenken:
Suchen Sie nach Verbündeten: Menschen die bereit sind, Zeit zu spenden und für sich ein Aufgabe darin sehen, sich in ihrem sozialen Umfeld zu engagieren.
Sprechen Sie nicht die Personen an, die in der Gemeinde schon engagiert sind, sondern halten Sie Ausschau nach Personen, die z. B. für die nachberufliche Lebensphase eine sinnvolle Aufgabe suchen.
Bieten Sie den Initiatoren im Gemeindehaus einen Begegnungsraum an und sorgen Sie dafür, dass die Gruppe Wertschätzung und Begleitung durch Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Gemeinde erfährt.
Machen Sie in der Kirchengemeinde durch Gemeindebriefe, Flyer, Beiträge in der Regionalpresse und durch Mund-zu-Mund-Propaganda bekannt, dass das Projekt „Aktive Nachbarschaft“ gestartet werden soll.
Beginnen Sie mit einem geselligen Auftakt, Grill- oder Straßenfest, Frühstückstreff oder Mittagstisch, um Berührungsängste und Vorbehalte abzubauen und Kontakte zu ermöglichen.
Achten Sie darauf, dass die unterschiedlichen Wünsche der Menschen nach Nähe und Distanz respektiert werden.
Sorgen Sie dafür, dass das Verhältnis von Geben und Nehmen ausgeglichen ist.
Um aufzuspüren, wer Hilfe und Unterstützung benötigt, nehmen Sie Kontakt mit der Diakonie- oder Sozialstation auf.
Nehmen Sie sich Zeit: Beziehungsarbeit gelingt nicht von heute auf morgen.
Mit der Aufgabe wachsen die Kräfte
Um das Zusammenleben im Sozialraum zu fördern, braucht es eine ständige Begleitung der freiwillig Engagierten, eine Moderatorin oder einen „Kümmerer“. Diese haben die Aufgabe, Prozesse anzustoßen, die Engagierten zu begleiten, zu motivieren, ihnen zuzuhören, sie zu beraten und gemeinsam mit ihnen ihre Erfahrungen in der Nachbarschaftsarbeit zu reflektieren. Warum sollte nicht Ihre Kirchengemeinde – möglichweise in Zusammenarbeit mit dem Diakonischen Werk – diese Aufgabe übernehmen? Schließlich hat sie Erfahrung, Kompetenzen und die nötigen Räume. Wenn es ihr gelingt, Menschen für diese Aufgabe zugewinnen, werden ihr neue Kräfte zuwachsen.
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