#prayingforparis – Lebenshauch
(AZ) Liebe Leserinnen und Leser,
es ist mir gelungen, heute kein einziges Bild aus Paris zu sehen. Ich Ihnen euch gleich, warum ich darüber froh bin. Ich sage Ihnen auch, warum mir ein Bild von Knochen Trost gibt. Mein Wort zum Volkstrauertag-Sonntag.
Wenn Sie heute eine Kerze anzünden und an die Menschen in Paris denken, dann vielleicht mit diesen Gedanken:
Paris, ich sehe dich ganz.
Mann, Frau, Kind, ich sehe deinen Leib,
liebevoll geformt, vollkommen, wunderschön.
So, wie Gott dich gewollt hat: frei, schöpferisch, achtsam.
Mensch, ich sehe dich ganz.
Innehalten
Die Nachricht von den Anschlägen in Paris hörte ich über einen der Pop-Radiosender in einem vollgestopften Laden, beim Blättern in Notizblöcken, was ich wirklich sehr liebe. Die Verkäuferin und ich hielten inne. Ich war einmal mehr irritiert, dass der Nachrichtensprecher nicht innehielt. Ziemlich bald darauf wurden die Fußballspiel – Ergebnisse abgearbeitet. Nur einmal habe ich erlebt, dass eine Nachrichtensprecherin bei einer schlimmen Nachricht zu weinen begann und ziemlich lange brauchte, bis sie weitersprechen konnte. Das fand ich angemessen.
Diesmal nicht!
Als die Ereignisse mit den Anschlägen des 11. September verglichen wurden, war mir klar, dass ich mich diesmal jedem weiteren Detail verschließen werde, besonders den Bildern. Damals trafen mich die Bilder der Zerstörung so tief, und waren auch in der Öffentlichkeit so unentrinnbar, dass ich sehr viele Monate und einen großen Teil meiner Kreativität brauchte, um meine KörperSeele wieder ins Lot zu bringen. Diesmal werde ich den Terroristen nicht so viel Macht über mich geben. Wir brauchen unsere Kraft woanders. Wir brauchen sie, um unsere Werte von Demokratie, Menschenwürde und Freiheit der Religionsausübung, der Freiheit sein Leben auf ganz unterschiedliche Weise zu gestalten und die Freude über die Vielfalt der Menschen weiter zu leben, zu stärken und auszubauen.
Rückwärts gespielt: Knochen werden zu Menschen
In den Osternächten meiner Kindheit wurden in tiefster Dunkelheit die kraftvollen Texte des ersten Testament verlesen, damals von einem Prädikanten, den mein Vater immer „den Wüstenprediger“ nannte. Er las die alten Texte mit donnernder eindringlicher Stimme, als wolle er die Kraft der Bilder ins Leben rufen. Die Formung des menschlichen Körpers aus Lehm durch Gottes Hände – was für ein Bild! Als Kind stellte ich mir das so vor, wie wenn ich mit Knete spielte. Heute als Erwachsene habe ich begriffen: was für ein sinnliches Bild, dass Gott uns in all unseren wunderbaren Körperdetails genauso wollte, mit Kurvenund Falten und allem! Ganz eben. Und gut.
Dann folgte die Litanei des Zerfalls, der Gewalt von Menschen gegen Menschen, vom unausweichlichen Tod. Und schließlich die Geschichte, deren Bilder sich mir in die Seele eingruben. Man nennt es die Totenfeld – Vision des Propheten Ezechiel/Hesekiel (Kapitel 37):
Der Prophet wird auf eine Ebene geführt, die voller Knochen liegt. Die Geistkraft Gottes wird diese Knochen mit Sehnen, Fleisch und Haut überziehen. Die ehemals zerstörten Körper werden wieder lebendig. Das hat mich als Kind sehr beeindruckt. Es mag eine der „gruseligsten“ Geschichten der hebräischen heiligen Schriften sein – es ist auch eine der stärksten. In der Interpretation des Propheten spricht die Vision vom wieder Aufstehen und Vereintwerden des zerschlagenen israelischen Volkes im 6. Jh v.u.Z.
Mich ereilt dieses Bild seit einiger Zeit immer dann, wenn Menschen Gewalt angetan wurde. Als würde der Film rückwärts gespielt. Die Zerstörung ist nicht das letzte Bild. Das letzte Bild ist die Ganzheit, das Leben.
Auf den vier Winden
In der Vision von Ezechiel weht die Geistkraft Gottes aus allen vier Himmelsrichtungen auf das Totenfeld. Das Hebräische Wort dafür heißt „ruach“, das man auch mit Hauch, Atem, Lebensatem – Luther sagt so poetisch „Odem“ – übersetzen kann. Es ist die schöpferische Kraft Gottes, die zu Beginn der liebevoll geformten Menschheit den Lebensatem einhaucht. Diese Kraft weht in die Getöteten hinein. Sie setzen sich wieder zusammen. Sie werden ganz. Werden lebendig. Sehr, sehr viele sind es – werden es sein.
Auf den vier Winden
weht Lebensatem in die Stadt
ich summe mein Liebeslied
in den großen Hauch
prayingforparis
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