Vergnüglich übers Sterben reden? Geht!
- einen Friedhof samt mitteilungsfreudigem Friedhofsmitarbeiter
- ein Totenhemd vom Bestatter
- eine Büchse voll guter Fragen
- eine ordentliche Tasse Kaffee, frischen Hefezopf plus süß und salzig Eingemachtes (mitgebracht von den Teilnehmenden)
Das war jedenfalls unser Rezept, als Annette Weiß (Interkulturelle Fachreferentin im Referat Erwachsenenbildung) und ich (AZ) zum dreistündigen Nachmittag „Friedhofserkundung und ein Totenhemd“ einluden. 20 Menschen ließen sich einladen, darunter zwei Musliminnen aus der Nachbarschaft, eine handvoll Profis und Ehrenamtliche aus dem Hospiz, der Altenarbeit und jede Menge ganz normale ältere und alte Menschen, die meinten, es sei jetzt mal dran, über´s Sterben zu reden. Ich erzähle Ihnen ausführlich (mit Material zum Download), um Sie zu ermutigen, es uns gleich zu tun: Inszenieren Sie einen Nachmittag, an dem es leicht fällt und Spaß macht, über´s Sterben zu reden. Unser Ziel: Die Anwesenden ins Reden zu locken, damit sie auch zu Hause mit Angehörigen und Gruppenmitgliedern ins Reden über das Sterben kommen. Denn es gibt ja doch das ein-oder andere zu besprechen.
Die Ausschreibung
So stand es in der Zeitung:
Friedhofserkundung und Gespräche übers Sterben
„Wie hältst du es mit dem Totenhemd?“ Über die Dinge zu sprechen, die rund um das Sterben wichtig werden, fällt schwer – besonders mit Menschen, die einem nahe stehen. Die Fachstelle Zweite Lebenshälfte lädt zu einem Nachmittag, an dem man genau dies tun kann – auf eine leichte Weise. Am Donnerstag, 05. November von 15:00 bis 18:00 Uhr wird zunächst gemeinsam mit Herrn Asbach von der Friedhofsverwaltung der Hanauer Hauptfriedhof einschließlich der muslimischen Gräber besucht. Anschließend wärmt man sich in der nahe gelegenen Fachstelle. Diese ist bunt geschmückt mit Fähnchen und Sugarskulls, die zum mexikanischen Dia de los Muertos verwendet werden, dazu viele andere liebevolle Details, Bücher und Gesprächsimpulse. Auch der Geschmack wird mit ins Spiel gebracht: Da es bei den Themen „ans Eingemachte“ geht, werden die Teilnehmenden gebeten, etwas Eingemachtes aus ihren Regalen mitzubringen, das mit einem frisch gebackenen Hefezopf verkostet wird.
Noch vor 80 Jahren lag im Wäscheschrank das Totenhemd als tägliche Erinnerung an die Endlichkeit. Pfarrerin Annegret Zander und Annette Weiß werden den Nachmittag begleiten und fragen, wie es möglich wird, den Tod wieder als etwas zum Leben dazugehörendes in den Alltag zu holen.
Diese Veranstaltung ist ausdrücklich keine Veranstaltung zur Trauerbegleitung.
Treffpunkt um 15 Uhr ist der Haupteingang des Hanauer Hauptfriedhofs … und die Anmeldedetails
Herr Asbach, zuständig für die Arbeiten auf den Hanauer Friedhöfen erzählte so lebendig und begeistert von seiner Arbeit, dass wir uns bald anstecken ließen. Zu Beginn hatten wir gleich eine lockere Atmosphäre hergestellt und die erste Frage mit auf den Weg gegeben: Wie möchten Sie beerdigt werden?
Die Führung zeigte, dass sich in der Bestattungskultur in den vergangenen 10 Jahren sehr viel verändert hat. Eindrücklich war auch wie Herr Asbach versucht, die neuen Wünsche und Bedürfnisse der Menschen in Formen umzusetzen, die würdevoll und ästhetisch sind. Dazu werde ich im Dezember in meinem Totenhemd-Blog näheres zeigen und beschreiben. Z.B. versucht er das große Interesse an Friedwäldern durch neue Baumpflanzungen und Urnengräber aufzufangen.
Eine Teilnehmerin war völlig begeistert: ihr Vater war Totengräber gewesen und sie fühlte sich wie daheim, wenn beim Abendbrot von Umbettungen, Knochen und Würmern gesprochen wurde. Das nenne ich „unerschrocken“! Vielleicht haben Sie jemand vor Ort, der früher Totengräber war? Unsere Teilnehmenden wurden jedenfalls auch immer lockerer und stellten gewagte Fragen.
Der Rundgang alleine hätte schon ausgereicht, so viele Themen waren im Herumspazieren in der Gruppe wie in Grüppchen bereits besprochen worden, z.B.
- Erd-oder Feuerbestattung? Was ist ökologischer/leichter für Angehörige zu handhaben?
- Was mache ich, wenn ich, wenn ich keine Angehörigen habe?
- Wo finde ich den anonym bestatteten Nachbarn, um mich von ihm zu verabschieden?
- Was geschieht, wenn wir sterben?
- Was geschieht mit meinem Körper?
Das Eingemachte
In der Fachstelle gab es einen riesigen frisch gebackenen Hefezopf. Es war mir sehr wichtig, dass es warm, schön und bunt aussieht und gut duftet.Auf den drei Tischen standen also Hefezopf, Brot, Butter, Salz, saure Gürkchen, Schmalz – Variationen, Latwerge, Orangenmarmelade und jede Menge mitgebrachte Marmeladen. „Ans Eingemachte gehen“, diese Redewendung beschreibt, dass man, wenn alles Frische aufgebraucht ist, man an die Vorräte gehen muss, die eiserne Reserve vielleicht. Wir tun das heute im übertragenen Sinne auch. „Ans Eingemachte gehen“ bedeutet ja auch, sich den schwierigen Dingen zuzuwenden. Nun können wir kosten: wie schmecken denn diese schwierigen Dinge? Sind sie süß, salzig oder bitter? Vielleicht gibt es Überraschungen? Und vielleicht stoßen uns die Geschmäcker auch an, noch vorzusorgen für die Zeiten, wenn die Lebensressourcen zu Ende gehen. Und was könnte das für ein Vorrat sein?
Das Totenhemd
Vom Bestatter hatte ich mir ein Totenhemd ausleihen können. Es hing an der Wand und ich griff es mir, hielt es mir und den anderen vor den Körper als wir zwischen den Tischen herumwuselten. Das Hemd ist 2 Meter lang, bedeckt also auch große Männer, es ist aus dünner – verrottbarer – Baumwolle und hinten offen! Eine kleine runde Dame griff sich das berüschte Kleid, streifte die Ärmel über und meinte „Könnte gerade so hinhauen“. Müsste man aber ziemlich viel unten abschneiden. Sie habe ihrer Mutter ihr buntes Nachthemd und Wollsocken gegen die kalten Füße angezogen, so wie sonst auch zum Schlafen. Ein Herr empörte sich über das Hemd, auch die Herrenvariante fiel durch. Dann doch lieber im Anzug.
Allein diese kleine Aktion hat so viele Anekdoten und Gedanken los getreten, dass es sich wahrlich gelohnt hat, es mitzubringen!
Die Fragen
In Einmachgläsern gab es auf bunte Kartonstreifen gedruckt viele Fragen.Während des Essens und Redens konnte man immer mal wieder eine Frage ziehen, was die Teilnehmenden rege taten und dann ihre eigenen Fragen dazu stellten. Zum Beispiel:
- Wovor haben Sie mehr Angst: dass Sie auf dem Totenbett jemand beschimpfen könnten, der es nicht verdient, oder dass Sie allen verzeihen, die es nicht verdienen?
- Welche Lieder sollen auf meiner Beerdigung gesungen werden?
- Werde ich es merken, wenn ich sterbe?
- Will ich wissen, wann ich sterben werde? (Es gibt einen Ankreuztest zu dieser Frage)
Die Fragen stammen von Max Frisch, der in den 70ern mehrere Fragebögen zu Lebensthemen geschrieben hat und Fragen, die im November im Totenhemd-Blog von sehr unterschiedlichen Menschen gestellt und beantwortet wurden.
Hier sind alle Fragen zum Kopieren bereit: Totenhemd_Fragen
Eine weitere Frage, die wir verfolgt haben, ist die der Künstlerin Candy Chang. Sie konfronierte Passanten im öffentlichen Raum mit riesigen Tafeln auf denen Listen stehen, die per Kreide selbst vervollständigt werden können: „Bevor ich sterbe möchte ich…“ Wir ließen Listen herumgehen und lasen sie zum Schluss vor. Hier können Sie eine Liste herunterladen: Bevor ich sterbe
Und all die Kleinigkeiten
Wir hatten überall weitere Spuren ausgelegt: Bücher , Kopien von Karrikaturen über den Tod, den neuesten Artikel der TAZ über digitale Friedhöfe, Bilderbücher, Gedichte und ein einfach gezeichnetes Totenhemd mit Laschen wie für eine Anziehpuppe, in das man seine Gedanken und Notizen einschreiben konnte. „Mein Totenhemd“ stand darunter.
Wir hatten angekündigt, dass mehrere Dinge gleichzeitig passieren, dass wir keine große Runde machen würden und empfahlen, wenigstens einmal heute den Platz zu wechseln. Das haben viele auch getan.
Der Beipackzettel
Zum Schluss gab es noch einen Hinweis auf die „Risiken und Nebenwirkungen“, die eintreten können, wenn man sich mit der eigenen Endlichkeit beschäftigt. Dazu erhalten auch sie jetzt den Artikel: Handout_Die 4 Phasen von ich regel jetzt mal alle letzten Dinge
Die Teilnehmenden gingen gewärmt, heiter, mit neuen Gedanken und Entschlossenheit nach Hause: „Ich hab es so lange vor mir her geschoben, jetzt geh ich´s an und mache alle Verfügungen…“. Wir erhielten jede Menge „Mehr davon!“-Rückmeldungen, weshalb wir das jetzt hier mit der herzlichen Empfehlung an Sie weitergeben: bieten Sie Treffpunkte an, wo man frei über´s Sterben reden kann. Es tut gut!
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