Der Blog für die zweite Lebenshälfte

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Ein Unrecht, mit Ratten zu leben. Martin Luther, Martin Luther King und der Thesenanschlag von Chicago

Veröffentlicht in: Bücher/Filme, NACHmachBAR

Ein Unrecht, mit Ratten zu leben. Martin Luther, Martin Luther King und der Thesenanschlag von ChicagoEine Kostprobe aus unserem neuesten Material, dem Reisekoffer „Unterwegs als Nachbarn“ von Gerd Meusel und Andreas Wiesner: „Zielgruppenorientierung teilt die Nachbarn in jene, die von den Programmen profitieren und jene, die leer ausgehen. Oft werden dadurch bestehende Konflikte vertieft.“

Martin Luther King jr. ist bekannt geworden durch Bürgerrechtsaktivitäten in den Südstaaten der USA und durch seinen Marsch auf Washington im August 1963. Mit der vielzitierten Rede „Ich habe einen Traum, dass eines Tages meine vier kleinen Kinder…“ hat er 250.000 Zuhörer und Millionen
Menschen an den Bildschirmen gerührt. Anhand weniger Sätze aus einer ansonsten scharf formulierten Rede, die in ihrer Gesamtheit nahezu vergessen ist, wird ein weichgespülter Martin Luther King vermittelt. Sein Beitrag zu Community Development in Chicago, IL. ist hingegen in Europa unbekannt geblieben. Dieser Artikel wird sich deshalb auf diese Aktivitäten konzentrieren und auf seinen Einsatz für Gewaltlosigkeit nicht näher eingehen.

Von der Würde und Freiheit eines Christenmenschen
1934 nimmt der schwarze Pfarrer Michael „Daddy“ King aus Atlanta/Georgia in den USA am Baptistischen Weltkongress in Berlin teil. Dort kommt er mit der Lebensgeschichte und der Theologie des deutschen Reformators Martin Luther in Berührung. Fortan nennt er sich Martin Luther King und seinen Sohn Martin Luther Junior. Gerade die Lehre von der Würde und Freiheit eines Christenmenschen ist in den durch Fundamentalismus geprägten Südstaaten revolutionär.
Martin Luther King jr. wird mit dieser Theologie von Kindesbeinen an in einer Post-Sklavenhaltergesellschaft konfrontiert.
Auch hat die afroamerikanische Bevölkerung der Nordstaaten andere Probleme als jene im Süden der USA: Formal haben sie
dieselben Rechte wie ihre Landsleute mit europäischen Wurzeln. Offiziell genießen sie dieselben Freiheiten. Aktionen wie im Süden
würden deshalb ins Leere laufen.

Ein Unrecht, mit Ratten zu leben
Zwei Jahre später, im Chicago des Jahres 1966, brodelt es. King und seine Leute planen, die im Süden bewährte gewaltfreie Aktion, in den Dschungel der Slums in den Großstädten des Nordens zu tragen. Dort sind die Probleme der Schwarzen nicht eine kleinliche Rassentrennung im Bus und an der Imbissbude, sondern die Hoffnungslosigkeit einer ganzen Generation Jugendlicher. King bezieht mit seiner Familie im Schwarzengetto auf Chicagos West Side eine heruntergekommene Wohnung: „Man kann den Armen nur nahe sein, wenn man bei ihnen lebt“, erklärt er den Reportern. Zu seinen Kirchenbesuchern sagt er: „In einem Slum zu leben, ist Raub. Ihr seid eurer Würde beraubt. Es ist ein Unrecht, mit Ratten zu leben.“ Dabei hat Chicago eines der höchsten Pro-Kopf-Einkommen der Welt und eine der niedrigsten Arbeitslosenraten der USA.

48 Thesen an der Rathaustür
Im zähen Verlauf der Bürgerrechtsaktivitäten kommt Martin Luther King eine Idee. Er will den symbolhaften Thesenanschlag seines
Namenspatrons zu Wittenberg im Jahr 1517, in Chicago nachahmen. Hatte der Thesenanschlag an die Schlosskirche in Wittenberg
eine Reformation der Kirche eingeleitet, so sollte ein Thesenanschlag am Rathaus in Chicago eine Reformation von Staat und
Gesellschaft initiieren. King wählt den traditionellen „Freiheitssonntag“ am 10. Juli. Im Footballstadion „Soldiers Field“ hält er vor 36.000 Zuhörern eine programmatische Rede. Dann führt er die Menge zum Rathaus. Unter Jubel heftet er 48 Thesen an die Metalltür. Hatte Luther vor 450 Jahren den geschäftsmäßigen Ablasshandel der Kirche angeprangert, so prangert King jetzt die Geschäftemacherei mit den Unterprivilegierten im Getto an. Seine Thesen richten sich an Stadtverwaltung, Gewerkschaften, Wirtschaft und Banken, an den Gouverneur, die Bundesregierung und gleichwohl an die Bevölkerung.
King mahnt Verbesserungen der Wohn-, Bildungs- und Arbeitsverhältnisse an. Er fordert öffentlichen Wohnungsbau, Kindergärten,
eine funktionierende Müllabfuhr und öffentliche Toiletten, verlangt Ausbildungsplätze und Beschäftigungsmöglichkeiten für Schwarze und Latinos, sowie einen Mindestlohn von 2 Dollar. Zudem fordert er eine Beschwerdestelle gegenüber polizeilichen
Übergriffen und willkürlichen Verhaftungen. Als King Bürgermeister Richard J. Daley seine Thesen übergeben will, weigert sich dieser,
sie entgegenzunehmen. King verspricht ihm Sit-ins, Camp-ins, Boykotte und Massendemonstrationen, wenn er nicht Grundlegendes
unternähme, der in den Gettos „brodelnden Verzweiflung“ entgegenzutreten.

Ein erster Schritt von 1000 Meilen
Der störrischen Reaktion Daleys folgt schon am nächsten Tag ein Aufruhr mit Verletzten und Verhaftungen. Erst nach dem Tod eines
14jährigen Mädchens und dem Einsatz der Nationalgarde gibt der Bürgermeister nach. Ein großer Teil der Forderungen aus Kings
Thesen wird in ein „Gipfelabkommen“ aufgenommen. Was Kings „Reformation“ in Chicago betrifft, so muss er sich mit bescheidenen
Ergebnissen begnügen: „Es ist der erste Schritt einer Reise von 1.000 Meilen“.
In den 50 seitdem vergangenen Jahren wurden nicht viele der zurückgelegten Meilen mit Erfolg belohnt. Dennoch …
n Die Reformation geht weiter, Schritt für Schritt … Obwohl ein großer Teil der Forderungen aus Kings Thesen aufgenommen wurde und wohlmeinende Regierungen Millionen Dollar in die Regeneration von Innenstädten investiert haben, hat sich die Lage der Bevölkerung nicht sehr verbessert. Noch heute leben in Chicago West Side fast 30 Prozent der Einwohner, das sind rund 130.000 Menschen, unterhalb der Armutsgrenze. Die traditionellen Regenerationsprogramme fokussierten sich auf den Mangel in sozialen
Brennpunkten und waren zielgruppenorientiert. Zielgruppenorientierung teilt die Nachbarn in jene, die von den Programmen
profitieren und jene, die leer ausgehen. Oft werden dadurch bestehende Konflikte vertieft.
Meist wurde für die betroffene Bevölkerung entschieden, ohne auf ihre Bedarfe, Fähigkeiten und Talente Rücksicht zu nehmen.
Einwohner der betroffenen Viertel wurden nicht als freie und handelnde Bürger, sondern als Klienten behandelt.
Die örtliche Bevölkerung wurde zum Zuschauer degradiert, während die Arbeiter*innen für die Großprojekte außerhalb rekrutiert
wurde. Indem traditionelle Regenerationsprogramme Menschen in sozialen Brennpunkten zu Empfängern machten, wurde
ihnen die Würde ein zweites Mal geraubt. Deshalb haben Kirchengemeinden und andere örtliche Organisationen ihre Entwicklung
in die eigenen Hände genommen und neue selbstbestimmte und selbstorganisierte ABCD-Projekte entwickelt.

Asset-Based Community Development (ABCD1) geht davon aus, das in benachteiligten Stadtteilen Fähigkeiten, Talente und Ressourcen für ein besseres Leben für alle Bewohner vorhanden sind. Diese können sowohl persönlich als auch institutionell
sein. Fähigkeiten, Talente und Ressourcen gilt es auszubauen, zu fördern, zu vernetzen und zu entwickeln. Diese spielen die zentrale
Rolle beim Asset-Based Community Development. Institutionelle Ressourcen sind unter anderem auch öffentliche Gebäude wie eine Stadtbibliothek, persönliche Ressourcen sind unter anderen das Organisationstalent, das in einer Schattenwirtschaft erworben wurden. Talente, Fähigkeiten und Ressourcen werden registriert und systematisch gefördert, verknüpft/vernetzt und ausgebaut.
Zur Überwindung von struktureller und institutioneller Ungerechtigkeit und zum Ausgleich von Ressourcendefiziten wird mit
städtischen, Regierungs- und anderen Organisationen auf Augenhöhe zusammengearbeitet.
Gemeinsam mit Aktiven in den Stadtteilen haben Prof. John R. Kretzmann und John L. McKnight Northwestern University haben
die Asset-Based Community Development Methode entwickelt. ABCD-Projekte können klein sein, wie zum Beispiel ein Lunchclub
(Gemeinde Mittagstisch) oder eine Hausaufgabenbetreuung (After School Club), aber auch gemeinnützige Entwicklungsprojekte
sein. Das IMANI Village, ein ökologisches Wohn-, und Geschäftsviertel einschließlich Schule, Jugendzentrum, Poliklinik, Betreutes
Wohnen und einer Markthalle wird zurzeit von der Trinity United Church of Christ (2) gemeinsam mit den Bewohnern eines der
ärmsten Stadtviertel entwickelt. Hier werden nicht mehr Thesen an fremde Türen angeschlagen, sondern Türen in Ökohäuser mit
bezahlbaren Mieten von örtlichen Handwerkern eingesetzt.

1 Mehr Informationen über Asset-Based Community Development
2 United Church of Christ / Vereinigten Kirche Christi, Partnerkirche
der EKHN ist 1957 durch die Verschmelzung der Evangelical and
Reformed Church (Evangelisch-reformierte Kirche) und der Puritanischen
Congregational Christian Churches (Kongregationalistische
christliche Kirchen) entstanden. Trinity United Church of Christ ist
eine radikale afro-amerikanische Gemeinde der UCC in der auch
Michele und Barak Obama aktiv mit gearbeitet haben. Als Präsident
der USA distanzierte sich Präsident Obama von seiner ehemaligen
Kirchengemeinde. Mehr Informationen im Web unter:
http://www.ucc.org/ und https://trinitychicago.org/

Georg Meusel
Der Autor stammt aus der Friedens- und Bürgerbewegung der DDR und wurde
demzufolge in Bildung und Beruf diskriminiert. Er trug vor allem mit Ausstellungsarbeiten
Martin Luther Kings Gedankengut in die Öffentlichkeit und war
Akteur der friedlichen Revolution im Bezirk Karl-Marx-Stadt.
1998 gründete er in Werdau das Martin-Luther-
King-Zentrum für Gewaltfreiheit und
Zivilcourage e.V. und arbeitet freiberuflich als
Journalist.

Andreas Wiesner
Der Autor hat nach seinem Pädagogik- und Theologiestudium in
Großbritannien 25 Jahre lang in Community Development/Gemeinwesenarbeit,
Mediation und mit Menschen in der Zweiten Lebenshälfte gearbeitet.
Gleichzeitig hat er über die sozialhistorische-feministische Methode der
Bibelexegese an der Universität Sheffield geforscht. Zurzeit arbeitet er als
Pädagogischer Fachreferent der Fachstelle Zweite Lebenshälfte im Referat
Erwachsenenbildung der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck.

 

Der ganze Reisekoffer hier: Reisekoffer Unterwegs als Nachbarn_Web

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