Der Blog für die zweite Lebenshälfte

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Spiritualität im Älterwerden: Zum Ende hin fragt man sich vielleicht dann doch

Veröffentlicht in: Älterwerden (im Selbstversuch), Andacht/ Spiritualität

Spiritualität im Älterwerden: Zum Ende hin fragt man sich vielleicht dann dochUnsere Praktikantin Anne Wisseler (hier stellt sie sich vor) hat sich der Aufgabe gestellt und ihren ersten Blogbeitrag geschrieben! Wir sind sehr dankbar für die Zeit mit Frau Wisseler, sie war uns eine riesige Hilfe!

Rosemarie
Gott sei Dank habe ich den Platz im Hospiz bekommen, dachte Rosemarie. Gott sei Dank? Ja, dankbar war sie. Denn hier im Hospiz fühlt sie sich wahrgenommen, ernst genommen, wird aber auch in Ruhe gelassen, wenn sie keine Lust hat. Aber Gott danken? Das hat sie ja noch nie gemacht. Klar, mit den Eltern war sie als Kind zu Weihnachten in die Kirche gegangen. Aber später, später nicht mehr. So richtig geglaubt hat sie an Gott nie. Jetzt, wenn es aber auf das Ende zu geht, fragt sie sich schon, ob da nicht doch wer ist. Wie es weitergeht mit ihr, wenn sie nicht mehr da ist…
Ihr Blick geht zur Uhr. Gleich kommt Schwester Ines, um ihre Werte zu messen. Auch wenn es mit meiner Krankheit zu tun hat – die regelmäßige Kontrolle gibt mir was zu tun und ich will die Arbeit für Schwester Ines so leicht wie möglich machen.
Es klopft und Rosemarie wird aus ihren Gedanken gerissen…

Unsicherheiten im Leben
Zum Ende des Lebens hin tauchen Fragen auf, die beispielsweise Einstellungen, Entscheidung, die eigene Identität ins Wanken bringen. Doch ganz gleich in welcher Lebensphase wir uns befinden, es gibt Zeiten, die uns Menschen Kraft rauben, mutlos, orientierungslos machen. Es sind oft Übergänge im Leben, die uns verunsichern. Und gerade in der zweiten Lebenshälfte gibt es viele davon. Eintritt in den Ruhestand, möglicherweise die Aufgabe der Pflege eines/r Angehörigen, vielleicht eine chronische Erkrankung und dann – zum Ende des Lebens hin – die eigene Betroffenheit, das Alter zu spüren, dem Abnehmen der Kräfte und dann dem eigenen Sterben und Tod zu begegnen.

Religiosität und Spiritualität
In der Wissenschaft versucht man Religiosität und Spiritualität voneinander zu trennen und zu definieren. Das kann ganze Bücher füllen. Ganz kurz, ganz grob: Beide beziehen sich auf eine Erfahrung, die hinter dem liegt, was wir Menschen sehen. Aber der Unterschied ist, dass Religiosität mit einer Rückbindung an eine Göttlichkeit und einem Glaubenssystem verbunden wird. Wie es beispielsweise in der evangelischen Kirche das Kirchenjahr gibt, die Aufnahme in die Gemeinde mit der Taufe, Bestärkung mit der Konfirmation, eine Bibel, Gebete, Segen. Spiritualität hat diesen konkreten Bezug eher nicht. Nichtsdestotrotz findet sich Spiritualität häufig in der Religiosität wieder.

Was hat das nun alles mit Rosemarie, dem Leben und Spiritualität zu tun?
Trotz zunehmender Individualisierung und Loslösung von Kirche sind Religiosität und Spiritualität wichtige Themen in der Auseinandersetzung mit sich selbst und der eigenen Identität. Sie unterstützen auf der Suche nach Sinn und Orientierung. Und für viele wird das nochmal wichtig, wenn es ans Lebensende geht, wenn Menschen ihr Leben bilanzieren. Es gibt schon einige Studien zum Thema Spiritualität/Religiosität im Alter. Man hat zum Beispiel festgestellt, dass Religiosität die Akzeptanz des eigenen Todes steigern kann. Die Angst vor dem Sterben jedoch wird sie wohl nicht ganz oder nicht allen nehmen können.
Riten – egal ob religiös oder alltägliche – geben Struktur, erzeugen Sinnhaftigkeit im Leben und der aktuellen Situation. Spiritualität kann bei der Bewältigung von Krisensituationen unterstützend wirken– für Betroffene, Angehörige sowie professionell Helfende. Vieles ist jedoch noch nicht erforscht, viele Fragen noch offen.
Wichtig ist, Menschenden Raum und die Zeit zu geben, über ihre Einstellung, ihre Fragen und Zweifel zu sprechen. Dabei geht es auch darum, eine Auseinandersetzung zuzulassen, auch wenn sie einem persönlich nicht zusagt. Eine eigene Auseinandersetzung ist dafür wohl unumgänglich. Vielleicht mit einem Glaubenskurs, in dem auch das Alter(n) explizit eine Rolle spielt? Oder sich selbst einmal die Frage stellen: Wie stelle ich mir eigentlich das Ende meines Lebens vor? Wie möchte ich gerne verabschiedet werden? Wen oder was brauche ich in schwierigen Situationen?

Zurück zu Rosemarie
Für Rosemarie ist das Werte messen ein wichtiges Ritual. Wenn es ihr gut geht, spricht sie mit Schwester Ines über alles Mögliche, was ihr durch den Kopf geht. Wenn es ihr nicht gut geht, hilft es ihr aber den Tag einzuordnen und weiß, wann sie ihn bald überstanden hat. Ihr Zimmernachbar hört jeden Morgen eine Andacht im Radio zum Start in den Tag. Das ist ihr schon zu viel Kirchenkram… Was immer da ist im Universum, das sie nun trägt – Rosemarie möchte ihre Dankbarkeit über das Leben zum Ausdruck bringen. Das tut sie nun soweit ihre Kräfte es zulassen, indem sie anderen noch etwas von sich weitergibt: ihre Erfahrung, ihre Ideen, einfach indem sie anderen eine Freude macht. Liebe Deinen Nächsten wie dich selbst, das hat Rosemarie von damals nämlich noch im Kopf.

Literatur
Glaubenskurs mit Bezug aufs Alter(n):
Bauer, Monika; Colditz, Jens (2015): Leben und Religion im Älterwerden. Die Weisheit baut ihr Haus. Nürnberg.

Zahlen, Fakten, Wissenswertes zum letzten Lebensjahr – unterhaltsam und mit literarischen Exkursen:
Kruse, Andreas (2007): Das letzte Lebensjahr. Zur körperlichen, psychischen und sozialen Situation des alten Menschen am Ende seines Lebens. 1. Aufl. Stuttgart: Kohlhammer

Nicht nur für Professionelle interessant – und leicht zu lesen:
Weiher, Erhard (2014): Das Geheimnis des Lebens berühren. Spiritualität bei Krankheit, Sterben, Tod; Eine Grammatik für Helfende. 1. Aufl. s.l.: Kohlhammer Verlag.

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