Jens-Peter Kruse: „Es gibt in der Kirche offensichtlich eine Defizitsicht auf das Alter“
Diesen kritischen und in Bezug auf die Kirche sehr selbstkritischen Vortrag hielt Jens-Peter Kruse, Mitglied unseres Fachbeirats, im Kontext der DEAE Veranstaltung „Jetzt reden wir!?“ am 16.09.2020. Wir danken Herrn Kruse, dass wir den Wortlaut hier veröffentlichen dürfen.
Die Pandemie hat schonungslos gezeigt, was Informierte in der Seniorenarbeit schon immer ahnten, wussten und beklagten. Corona brachte die Defizite in der Altenhilfe ans Licht: Mängel in der Pflege wie auch die fehlende Wertschätzung des Alters.
„Hoffnungsträger“, um einen zentralen Begriff aus der Überschrift des heutigen Online-Themenabends zu nehmen, waren und sind die Alten weder für die Gesellschaft noch für die Kirche. Der Wunsch der Kirchenleitungen nach einer innovativen, modernen, zukunftsfähigen Kirche ist für sie mit der Realität einer älter werdenden Kirche nicht vereinbar. Das Altersbild, das in der Kirche traktiert wird, ist weiterhin durch das Charakteristikum der Pflegebedürftigkeit geprägt. Es gibt in der Kirche offensichtlich eine Defizitsicht auf das Alter, die stark von diakonischen Anliegen bestimmt ist.
Wie entstehen Altersbilder?
Durch die Altersberichte der Bundesregierung? Durch Veröffentlichungen von Gerontologen, von Psychologinnen oder von Medizinern? Ich vermute eher nicht. Jedenfalls sind diejenigen, die dies glaubten durch die COVID-19-Pandemie eines Besseren belehrt worden. Plötzlich waren sie wieder da, die negativen, defizitären Bilder vom Alter. Plötzlich gehörten schon die 60-Jährigen zur vulnerablen „Risikogruppe“.
Wie entstehen Altersbilder?
Altersbilder entstehen vor allem durch gesellschaftliche Zuschreibungen. Die in ihnen zum Ausdruck kommende Achtung oder Abwertung des Alters sind eng mit den gelebten Werten der jeweiligen Gesellschaft verbunden.
Ich möchte dies im Folgenden kurz ausführen:
Der Hannoveraner Sozialphilosoph Oskar Negt hat im Jahre 2014 bei einer Schweizer Tagung über die Kulturen des Alterns darauf hingewiesen, dass jede Gesellschaft über ein „Selbstideal des Menschen“ verfügt, über eine Vorstellung davon, wie Menschen idealerweise sein sollten. Im alten Griechenland, so Negt, waren es die Bürger der Polis, die sich für das Gemeinwesen verantwortlich wussten. Menschen mit Erfahrung, Erinnerungskapazität und Bindungsbereitschaft. Fähigkeiten, die mit dem Alter eng verbunden sind.
Diese Werte haben in unserer schnelllebigen Zeit an Bedeutung verloren. Heute ist, so Negt, ein ökonomisches Menschenbild bestimmend. Der unternehmerische Mensch ist das Ideal: jederzeit flexibel, jederzeit erreichbar, jederzeit produktiv. Diese Messlatte wird an alle angelegt, an die Jungen wie an die Alten. An ihr entscheidet sich Wert oder Unwert.
Dazu passt, dass die in den letzten Jahrzehnten erfolgte Aufwertung des Alters nur dem aktiven Alter galt. Nicht das Alter wird geschätzt, sondern die noch vorhandene Jugendlichkeit trotz des Alters.
„Mit einem Schlag wurde das Bild von den jungen, fitten Alten zerstört.“
Wenn inzwischen schon die 60-jährigen zur sogenannten „Risikogruppe“ gezählt werden, zeigt dies, dass selbst die leistungsbezogene politische Aufwertung des aktiven Alters in den letzten Jahrzehnten nicht zu einem nachhaltig veränderten Blick auf das Alter geführt hat. Mit einem Schlag wurde das Bild von den jungen, fitten Alten zerstört. Dass dies bei den Betroffenen Empörung ausgelöst hat, die sich auch in Demonstrationen Luft verschaffte, weil die Zuordnung zu einer Risikogruppe ihrem Selbstverständnis widersprach, darf nicht verwundern.
Folgt man den Überlegungen von Negt, legt sich folgende Schlussfolgerung nahe: So lange Produktivität, Jugendlichkeit, Fitness und Leistungsfähigkeit in unserer Gesellschaft die bestimmenden Maßstäbe sind, wird vor allem das vierte Lebensalter ausgegrenzt bleiben und als defizitär beurteilt werden.
Die Folgen sind wenig überraschend: Wer will schon in einer „Gesellschaft, die sich auf jung schminkt“ (Ernst Bloch) zu den Alten gezählt werden? Wer möchte in einer Gesellschaft, in der die wachsende Zahl älterer Menschen als Problem angesehen wird, alt sein? Wer bekennt sich schon gern zu seinem Alter, wenn in der medialen Öffentlichkeit der demografische Wandel und die Alterung der Gesellschaft vorrangig als Belastungsdiskurs geführt wird.
Die Corona-Krise hat den negativen Blick auf das Alter reaktiviert und das Generationenverhältnis belastet. Nun wurden die Alten auch noch zur Spaßbremse für die Jüngeren. Bei vielen jungen Menschen entstand das Gefühl, dass sie um der sogenannten „Risikogruppe“ willen, auf Feten und Feiern, Discobesuch und Rockkonzerte verzichten mussten, dass die Pandemie für sie nur mit einem geringen Risiko, aber künftig hohen Kosten verbunden ist. Diese Sicht wird durch Aussagen wie z. B. vom Europabüro der WHO (HAZ 16.9.2020), die Jugendlichen würden wegen der Corona-Pandemie „einen Sommer und ein fantastisches Jahr ihres Lebens verpassen“, noch verstärkt. Sie sind wenig hilfreich, weil sie „spalten statt versöhnen“ (Johannes Rau, Bundestagswahl 1987: Versöhnen statt spalten). Es gibt nicht nur einen Verlierer. Die Krise belastet viele: Schüler wie Bewohnerinnen von Altenheimen, Eltern im Homeoffice oder Menschen in Kurzarbeit.
Debatte wird weitgehend ohne die Beteiligung der Älteren geführt
Wenig hilfreich waren in diesem Zusammenhang die Aussagen des Tübinger Oberbürgermeisters: „Die Jüngeren gehen arbeiten und nehmen die Infektion auf sich, während die Älteren und Kranken auf soziale Kontakte verzichten.“ (TAZ vom 5.4.2020) oder des Kanzleramtsminister Helge Braun einige Tage vorher im Tagesspiegel (29.3.2020): „Die Älteren werden ihre Kontakte länger reduzieren müssen.“
Typisch für die Debatte über den Schutz der Älteren war, dass sie weitgehend ohne die Beteiligung der Älteren geführt wurde. Stattdessen dominierte ein altersbezogener, bipolarer „Wir-Sie“-Diskurs. Die „Wir‘s“ entscheiden darüber, was für die „Sie‘s“ sinnvoll und gut ist. Dieses „Retter-Opfer-Narrativ“ hat die Älteren zu willen- und verantwortungslosen Objekten gemacht.
Was als Schutz gedacht war, entwickelte sich zu einem Bumerang. Die Quarantänemaßnahmen (Besuchsverbote, Kontakt- und Bewegungseinschränkungen) in den Alten- und Pflegeheimen machte nicht wenige krank. Häufig beobachtet wurden eine Verschlechterung des Allgemeinzustandes, eine Rückgang der kognitiven Fähigkeiten und die Zunahme von Depressionen. Zugespitzt formuliert: „Die Vermeidung des biologischen Todes wurde erkauft mit dem sozialen Tod.“ (Prof. Dr. Frank Schulz-Nieswandt)
Dass die Verweigerung von Grundrechten für Bewohner*innen von Altenheimen in der Öffentlichkeit nicht als Skandal diskutiert wurde, ist schon bemerkenswert. Darin kommt m. E. zum Ausdruck, dass defizitäre Altersbilder in unserer Gesellschaft weiterhin weit verbreitet sind.
„Tyrannei des gelingenden Lebens“
Da muss man sich nicht wundern, dass nicht wenige Ältere ihr Alter verdrängen und sich jünger einschätzen, als sie wirklich sind. Alt sind nur die anderen. Diese Haltung ist gefährlich, denn die Orientierung an Jugendlichkeit und Leistungsstärke, Produktivität und Erfolg kann schnell zu einer „Tyrannei des gelingenden Lebens“ führen (Gunda Schneider-Flume).
Die Verweigerung der Annahme des eigenen Alters ist eine Form der Reaktion auf die gesellschaftliche Abwertung des Alters, die Internalisierung defizitärer Altersbilder eine nicht minder riskante. Denn die Verinnerlichung negativer Altersbilder wirkt wie eine Sich-selbst-erfüllende Prophezeiung (self-fulfilling prophecy). Sie ist riskant, weil die Annahme der gesellschaftlichen Rollenzuweisungen die noch vorhandenen Potenziale verkümmern lässt und gesundheitliche Einschränkungen zur Folge hat: „Menschen mit einer positiveren Erwartung lebten durchschnittlich 7,5 Jahre länger als Menschen mit einer negativen Vorstellung vom Altern.“ (André Aleman)
Wir Alten sind an der Entwertung des Alters nicht schuldlos. Indem wir das eigene Alter verdrängen oder gar die negativen Altersbilder internalisieren, tragen wir selbst zur Verbreitung negativer Altersbilder bei.
Die Corona-Pandemie reaktiviert ein Altersbild, von dem wir alle meinten, dass es ausgedient hat. Dies führt nicht nur zu gesundheitlichen Einschränkungen und der Minderung von Lebensfreude im Alter, es behindert auch die Teilhabe Älterer und erschwert, „dass sich ältere Menschen mit ihren Fähigkeiten in die Gesellschaft einbringen“ (Sechster Altenbericht) Denn „Eine Gesellschaft, die den Alten nichts zutraut, wird von ihnen kein Engagement erwarten können.“ (Ernst Bloch) Das alles gilt es in der hoffentlich nicht kommenden zweiten Welle zu bedenken.
Jens-Peter Kruse
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