Advent: „Wie uns die Alten sungen“ und ein Teller Apfelschnitzen
Es ist ein Ros entsprungen aus einer Wurzel zart,
wie uns die Alten sungen, von Jesse kam die Art
und hat ein Blümlein bracht
mitten im kalten Winter
wohl zu der halben Nacht.
„Vitaminchen“
Als ich ein Kind war, gab es im Winter bei den sonntäglichen Besuchen bei meiner Oma immer Tellerchen mit Apfel- und Mandarinenschnitzen. Sie waren liebevoll zu Blümchen zusammengelegt. „Vitaminchen“, sagte meine Oma und stellte sie den Enkelkindern hin.
Anna Zander, geborene Horst. Anna Zander hat sich in diesem Jahr in mein Bewusstsein geschoben. Ich weiß nicht wieso, sie starb 1984. Sie ist irgendwie da, gehört zu meinen „Alten“, zu den Ahninnen und Ahnen, von denen wir abstammen, von denen wir die Wangenknochen, die Form der Nase, Familiensprüche, gute und schlechte Angewohnheiten und auch ein Stückchen Glauben geerbt haben.
Als mein Kind groß genug war für Apfelschnitzen, ertappte ich mich dabei, dass ich die „Äpfelchen“ liebevoll in Blümchen auf dem Teller arrangierte. Ganz wie meine Oma. Und prompt stand meine Oma neben mir.
Meine Ahnin
Anna Zander, geboren 1911. Mit 2 ½ Jahren wurde sie Waise. Sie wuchs getrennt von den 3 Schwestern in einer Bauernfamilie in Rothenbergen auf. Dort musste sie von klein auf mitarbeiten. Als Backfisch, mit etwa 12-13 Jahren, kam sie zu einer Verwandten nach Frankfurt. Dort konnte sie immerhin einen einfachen Schulabschluss machen und arbeitete dann – mal mehr mal weniger gut aufgehoben – in verschiedenen Familien als Haus- und Kindermädchen.
Ich habe meinen Vater gefragt, warum er immer von „unserem Herrgott“ spricht? Das hat er von seiner Mutter übernommen. Er weiß, dass die Bauernfamilie mit der kleinen Anna in Rothenbergen zumindest im Advent wenigstens einmal zur Bergkirche hinaufstieg, um in die Kirche zu gehen. Das hat sie selbst erzählt.
Als sie Mutter wurde hat sie ihrem Sohn das Vaterunser beigebracht. Damit haben sie so manchen Tag in den Jahren 1943 – 45 im Bunker in der Saalburgstraße in Frankfurt verbracht. „Im Bunker habe ich von meiner Mutter Lesen, Schreiben und Beten gelernt“, sagt mein Vater. Von ihr lernte er auch, dass ein guter Protestant sonntags in die Kirche geht. Besonders wichtig in einer katholisch dominierten Gegend wie Neuhof. Das tat sie, das tut er bis heute. Mehr wissen wir nicht über den Glauben meiner Großmutter. Wir können nur vermuten, dass die Lieder, die mein Vater im Nachlass in ihrem Gesangbuch angekreuzt fand, ihr wichtig waren.
Befiehl du deine Wege und was dein Herze kränkt
der allertreusten Pflege des, der den Himmel lenkt.
Der Wolken, Luft und Winden
gibt Wege, Lauf und Bahn,
der wird auch Wege finden, da dein Fuß gehen kann.
Kraftworte – Kraft ohne Worte
„Die Alten“, damit sind in dem alten Weihnachstlied „Es ist ein Ros entsprungen“, die Propheten gemeint. Sie sangen und sagten von einem, der kommen wird. (z.B. Jesaja 11, 1; Jeremia 23, 5-6)
Gerechtigkeit wird er bringen.
Recht wird er üben.
Heilsam wird er sein.
Er wird uns Sicherheit schenken.
„Alles Lüge!“, hätte Generation um Generation rufen können. Nichts ist sicher, wenig ist gerecht. Aber da sind sie. Die alten Worte. 2.500 Jahre alt die Worte der Propheten, 2000 Jahre das Vater unser. Von Generation zu Generation weiter gesagt, weiter gehofft, weiter erzählt: wir haben überlebt, wir haben doch noch gut gelebt. Wir haben die Kraft dazu gefunden. „Unser Herrgott“ ist da gewesen. Er wird da sein.
Meine Oma hat so etwas zu mir nie gesagt. Hat weder über die Enttäuschungen ihres Lebens, noch über die Kraft aus der sie lebte gesprochen. Zu mir hat sie nicht über ihren Herrgott gesprochen.
Sie war keine Frau der großen Worte oder Gefühle.
Sie sagte „Vitaminchen für euch“ und lächelte.
Und immer, wenn ich nun selbst Apfeltellerchen herrichte, spüre ich etwas: Es spricht von Schönheit, von Getragen sein und wortloser schlichter Liebe.
***
Die nächste Generation der Ahnen – das sind wir
„Tradition ist nicht die Anbetung der Asche, sondern die Weitergabe des Feuers“, sagte einst so oder so ähnlich Gustav Mahler (1860 – 1911), der österreichische Dirigent und Komponist.
Heute, am ersten Advent beginnen wir im Kirchenjahr wieder von vorne, erinnern uns daran, was „die Alten sungen“, die wir einst selbst sein werden. Wir werden die Ahninnen und Ahnen sein, die den nachfolgenden Generationen hoffentlich etwas von dem Feuer weitergeben, das uns wärmt und zuweilen für eine Sache brennen lässt.
Wie die Generationen vor uns, werden wir unsere eigenen Wege mit der Tradition gehen. Die Lieder verändern sich, die Geschichten. Aber nicht die Kraft, aus der wir leben.
Das Blümlein das ich meine, davon Jesaja sagt,
hat uns gebracht alleine Marie, die reine Magd;
aus Gottes ew´gem Rat hat sie ein Kind geboren,
welches uns selig macht.
Für Ihre Andacht
Diese Worte habe ich für eine Andacht geschrieben. Währenddessen schneide ich Apfel um Apfel und lege die Schnitzchen auf einem Goldrandteller schön im Kreis zurecht. Am Schluss lasse ich den Teller herumgehen und lade ein, sich zu unterhalten: Was habe ich von meinen Alten mitgegeben bekommen – und was will ich weitergeben.
Gerne können Sie dies für Ihre eigene Andacht verwenden.
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