Der Blog für die zweite Lebenshälfte

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In welchem Leben möchten Sie aufwachen? – Weitlings Sommerfrische

Veröffentlicht in: Älterwerden (im Selbstversuch), Bücher/Filme

In welchem Leben möchten Sie aufwachen?  - Weitlings SommerfrischeBuchbesprechung: Sten Nadolny, Weitlings Sommerfrische

In einer meiner Lieblingsserien namens „Fringe – Grenzfälle des FBI“ sind die Agents myteriösen Fällen auf der Spur.  Sie bewegen sich dabei in mindestens zwei Parallelwelten. In beiden Welten sind die dieselben Personen unterwegs, aber die Welten und die Menschen haben sich bei aller Ähnlichkeit unterschiedlich entwickelt. In einer der jüngsten Folgen vergleichen 2 Agents ihre Biografien und stellen fest, dass sie in allen wesentlichen Punkten (Eltern, Schulbiografie, Berufsbiografie)  gleich gelebt haben. Und doch sind sie völlig unterschiedliche Persönlichkeiten geworden.

Ein ähnliches Spiel unternimmt Sten Nadolny in seinem neuen Werk „Weitlings Sommerfrische“. Der Autor der preisgekrönten „Entdeckung der Langsamkeit“ lässt seinen Protagonisten durch einen Segelunfall in seine Jugend zurück fallen. Der pensionierte Richter Wilhelm Weitling findet sich in einer Zwischenwelt wieder. Wie ein Geist klebt er an seinem jugendlichen Ego, das er nur verlassen kann, wenn der junge Willy schläft.  Gezwungen, sein frühes Leben noch einmal zu betrachten, erinnert er sich an Jugendlieben, Lehrer, seine Eltern und den leicht dementen Großvater, an seine Träume, Lieblingslektüren und Lebenspläne  – nämlich jemand Großes und Wichtiges zu werden. Es ist eine minutiöse Biografiearbeit, die für ihn manchmal ermüdend öde ist.  Wer möchte schon gerne noch mal 16 sein? Welche Gnade, dass man selbst so manches vergessen hat und im Rückblick das ein oder andere geraderücken kann.

Und anscheinend geschieht auch bei Weitling genau dies. Irgendwo im Feintuning der Erinnerung geschieht etwas, das ihn nach langer Zeit plötzlich wieder in sein Erwachsenenleben katapultiert. (Ich will Ihnen nicht verraten, wie die Rückkehr zustande kommt – mag sie doch eine Schnittstelle in Ihrer eigenen Biografiearbeit sein.“) Aber nicht nur das. Er muss entdecken, dass er in ein völlig anderes Leben zurückgekehrt ist.

Ein spannendes Spiel mit der Frage „Was wäre gewesen, wenn…“ beginnt im eigenen Kopf. Das alte Rätsel: wenn ich mich damals anders entschieden hätte… Nadolny nimmt auch die Frage nach Gott mit in sein Gedankenspiel, die Frage, wie  gnädig man mit sich selbst sein kann. Aber auch: was immer ich damals tat – wie lebe und genieße ich mein jetziges Leben in diesem Moment, mit allen Rätseln, die es mir aufgeben mag. Ja, und man fragt sich: in welchem Leben würde ich gerne aufwachen?

Die Sommerfrische war meine Sommerlektüre – ich bin 24 Jahre jünger als der Autor. Es ist aber ein Buch für jede Jahres- und Lebenszeit.


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