Zur Jahreslosung 2016: Die alte Handtasche
Unter den KollegInnen wurde sehr hin- und her diskutiert, wie man sich der Jahreslosung nähern könnte. Eine Kollegin aus der Bremischen Evangelischen Kirche, Pastorin Miriam Richter, hat in der selben Nacht, in der ich über meine Handtasche schrieb, diesen Text gezaubert. Sie hat mir großzügigerweise erlaubt, ihn hier zu veröffentlichen. Bitte beim Verwenden darauf hinweisen!
Weitere Ideen zur Jahreslosung finden Sie hier.
Die alte Handtasche
Als sie ein Kind war, hat sie sie geliebt.
Mutters Handtasche.
Groß war sie. Und aus braunem Leder, dem man das Alter schon damals ansehen konnte. Sie hatte einige Flecken und Falten.
Und immer wenn die Mutter das Haus verließ, nahm sie die Tasche und hängte sie über ihre Schultern.
Es war, als wäre die Tasche ein Teil der Mutter, zumindest draußen.
Und immer wenn sie etwas brauchte, kramte die Mutter in der Tasche und fand genau das richtige.
Mal war es ein Pflaster, das sie schnell auf das aufgeschlagene Knie klebte. Mal war es ein kleiner Schokoriegel, den sie auswickelte und mit ihr teilte. Auch eine Flasche mit Wasser war darin. Und Taschentücher. Und Hustenbonbons. Ein Haargummi, mit dem sie ihr schnell einen Zopf flechten konnte. Und ein kleines Spielzeugauto oder ein Pixiebuch, wenn die Busfahrt zu lang wurde.
Und manchmal zauberte sie ganz erstaunliche Dinge aus ihrer Handtasche: Einmal war es eine Mundharmonika, mit der sie – einfach so – ein Lied spielte. Einmal war sogar ihre Lieblingspuppe in der Tasche. Und in der Weihnachtszeit holte die Mutter ab und zu ein kleines, in buntes Papier eingewickeltes Päckchen hervor. Dann strahlten sie beide und die Mutter sagte mit gut gespieltem Erstaunen: Wo kommt das denn her?
Als Kind hat sie oft geglaubt, es wäre eine Zaubertasche.
Wie sonst wäre es möglich gewesen, dass immer genau das richtige drin war?
Manchmal hat sie versucht, hineinzugucken. Aber dann schnappten die Magneten schon wieder zu, die den Inhalt der Tasche vor neugierigen Blicken schützten.
„Wenn ich groß bin, habe ich auch eine Zaubertasche!“ hat sie oft gedacht.
Und noch Jahre später konnte sie sich an den Geruch des Leders erinnern, der ihr in die Nase stieg, wenn sie dicht neben der Mutter lief.
Heute ist sie groß.
Sie hat viele Handtaschen. Eine davon ist groß und braun und aus Leder. Mit ein paar Flecken und schon einigen kleinen Falten. Und sie ist immer voll.
Taschentücher, Schlüssel, Pflaster, das Telefon, Hustenbonbons, alles ist drin.
Und immer wieder passiert es, dass sie etwas sucht. Und aufgeregt in ihrer Tasche wühlt und kramt. Und am Ende gibt sie ein ums andere Mal auf. Irgendwas fehlt.
Heute ist sie groß.
Und Mutter ist alt.
Sie nimmt die Tasche nicht mehr über die Schulter.
Sie geht ja auch nicht mehr raus.
Wohin sollte sie auch gehen. Sie wird ja gut versorgt im Pflegeheim.
Einmal, kurz vor Weihnachten, kommt sie wieder auf Besuch. Sie legt den Mantel ab und setzt sich zu ihrer Mutter.
„Hast du eine neue Handtasche?“ fragt die Mutter.
„Ja, die habe ich mir zu Weihnachten geschenkt. Etwas früh, ich weiß“, sagt sie und streicht etwas verträumt mit den Fingern über das weiche Leder.
„Nur zaubern kann sie nicht“ fügt sie noch hinzu.
„Zaubern?“
„Ja, so wie deine Tasche. Die große. Du konntest immer hineingreifen und hast genau das gefunden, was ich gerade gebraucht habe. Egal, was es war. Du hattest eine Zaubertasche. Und konntest machen, dass es mir gut geht.
Meine Tasche kann nicht zaubern. Irgendwas fehlt immer“, sagte sie leise, nach einer kleinen Pause.
Die Mutter lächelte. Und viele kleine Fältchen tanzten auf ihrem Gesicht.
„Geh mal zu meinem Schrank“, sagte sie. „Ganz hinten in der Ecke, ja, da unten, hinter den Schuhen.“
Sie ging hin und zog die alte Handtasche hervor.
Es waren noch viel mehr Flecken, als sie erinnerte. Und vom Liegen im Schrank war sie ganz zerknautscht.
„Das ist mein Weihnachtsgeschenk.“
Der Nachmittag ging dahin. Mit Freude über das besondere Geschenk. Teetrinken und Plaudern über dies und das.
Abends, als zu Hause alles ruhig wurde und sie wieder ein paar Augenblicke für sich hatte, nahm sie die Tasche und öffnete sie.
Viel war nicht mehr drin.
Eine Packung Taschentücher, ein paar alte Busfahrkarten, ein klebriges Hustenbonbon, Ein Pflaster mit aufgedruckten Tieren, das längst nicht mehr klebte. Und viele Krümel.
Und dann entdeckte sie ein Seitenfach. Sie ertastete ein Büchlein. „Darum ist die Tasche so schwer“ dachte sie sich und zog das Buch heraus.
Eine Bibel?
Mit vielen kleinen Zettelchen zwischen den Seiten. Da waren winzige Lesezeichen. Keine echten, sondern Einwickelpapiere oder Fahrkarten, ein Foto, ein abgerissenes Stück von einem Briefumschlag. Die Seiten waren abgegriffen, die Buchdeckel angeschlagen.
Sie blätterte darin. Und wunderte sich.
„Ich habe dich nie darin lesen sehen!“ sagte sie bei ihrem nächsten Besuch und legte ihrer Mutter die Bibel auf den Tisch.
Und wieder tanzten die Fältchen auf dem Gesicht der Alten.
„Und ich habe nie eine Zaubertasche besessen“, sagte Mutter. Und es klang ein bisschen geheimnisvoll.
„Du glaubst nicht, wie oft ich etwas gesucht habe, und hatte genau das, was ich brauchte nicht bei mir. Und dann habe ich gesucht und gekramt und das unterste nach oben gekehrt.
Die Bibel, die du gefunden hast ist alt. Viel älter als die olle Tasche. Sie gehörte meiner Mutter. Und manchmal, wenn wir zusammen unterwegs waren und irgendetwas fehlte, und ich hab gesucht und gesucht, dann habe ich die durch den Stoff hindurch fühlen können. Wenn ich Glück hatte, fiel mir dann etwas ein. Wer sagt denn, dass ein Schokoriegel nicht gegen Halsweh hilft? Und wer hat je behauptet, ein Spielzeugauto wäre ein schlechter Beschützer für den ersten Tag im Kindergarten?
Irgendwas ist mir meistens eingefallen.“
Wieder geht der Nachmittag dahin. Mit Kindheitserinnerungen, Tee trinken und Plaudern.
Aber schon auf dem Nachhauseweg merkt sie, dass noch etwas nicht beantwortet ist. Sie denkt immer wieder darüber nach. Und nimmt sich fest vor, beim nächsten Besuch danach zu fragen. Bis dahin behält sie die Bibel in ihrer Handtasche. Und manchmal, wenn sie ganz dringend etwas sucht, und schon ganz aufgeregt wird, dann fühlt sie sie in dem kleinen Seitenfach.
Dann denkt sie an früher. An die Zaubertasche, in der für jede Situation das richtige drin war.
Und manchmal fällt ihr dann ein, wie sie ihr Kind trösten kann. Irgendwas findet sie schon.
Pastorin Miriam Richter, Bremische Evangelische Kirche
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