„Ich möchte noch nützlich sein!“ Ein Besuch im Altenheim
(AZ) Frag die Expert*innen, sagte ich mir. Ich hatte die Einladung bekommen, eine Gesprächsrunde in einem Altenheim zu leiten. „Sie sind die Expertinnen und Experte fürs hohe Alter“, sagte ich – ein bisschen gewagt – aber die Frauen und der einzige Mann nahmen es gelassen hin und beantworteten meine Frage:
„Was macht für Sie hier und heute ein gutes Leben aus?“
- Ich bin froh, dass ich nicht mehr die ganze Last zu tragen habe mit meinem Haus, seit ich in meine kleine Wohnung im betreuten Wohnen eingezogen bin.
- Ich möchte noch nützlich sein!, sagt Herr W. Er liest den Bewohner*innen im Nachbarhaus Gedichte und in Fortsetzungen einen Roman vor.
- Ich kann nun nicht mehr gut sehen, sagt Frau N.. Sie trägt eine dunkle Brille, im blauen Kostüm, wie für einen beruflichen Termin. Ich habe früher viel gemacht, Verantwortung getragen, beruflich und ehrenamtlich. Nun muss man herausfinden, wie man trotz der Einschränkungen doch noch anderen helfen kann. Dazu braucht sie auch, dass andere sie ansprechen, damit sie ein Gegenüber hat. Später sehe ich sie mit einem Teewagen die Gesangbücher wegbringen. Helfen zu können, hilft ihr, mit ihren Einschränkungen umgehen zu lernen.
- Ich habe ein Tablet gekauft, damit ich mit meiner Tochter auf der anderen Seite der Erdkugel telefonieren kann. Über das Telefon ist es hier im Heim zu teuer. Nun braucht sie noch jemand, der ihr Scype einrichtet. Emails schreibt Frau K. schon länger.
- Ich gehe in den Kindergarten in der Nähe, dort spiele ich mit den Kindern!, sagt Frau S.. Ich kenne sie von früher, aus einem meiner Kurse und bin sehr beeindruckt, wie sie hier mit Rollator und doch ganz wie damals aktiv und offen unterwegs ist. Ich habe hier eine neue Familie gefunden, sagt sie. Und offensichtlich auch Aufgaben: Sie organisiert, dass es Kaffee gibt und räumt auch wieder ab. Der Rollator wird zum Transportwagen. Die Kinder kommen auch immer mal ins Haus. Einen Kontakt zu einer Hundertjährigen hat sie hergestellt. Die Kinder waren tief beeindruckt und malen ihr immer mal Post.
- Wir möchten, dass man uns nicht abkanzelt! Schließlich kommen doch die heißen Themen auf den Tisch. Es gab Veränderungen im Haus – Brandschutzauflagen müssen erfüllt werden – aber das wurde offenbar nicht richtig kommuniziert. Ein Vier-Augen Gespräch mit Hausleitung endete unerfreulich. Die Bewohnerinnen wünschen sich offene Kommunikation auf Augenhöhe. Und Mitsprache.
- Staatliche Auflagen im Pflegebereich haben die schwer Pflegebedürftigen und die, die noch beweglich(er) unterwegs sind, räumlich auseinanderdividiert. Das bedauern alle sehr! Es sei schön gewesen, das Miteinander, sie hätten den anderen geholfen, beim Essen zum Beispiel. Das fehlt ihnen jetzt, hier helfen zu können. Den Pflegekräften offenbar auch.
Ich lese zurzeit von Andreas Kruse „Lebensphase hohes Alter. Verletzlichkeit und hohes Alter“. Ein einstündiger Besuch im Altenheim hat mir eine Zusammenfassung des Buches beschert. Die zunehmende Verletzlichkeit alter Menschen und die Potenziale, die sie in sich tragen, können – ja müssen – zusammen gesehen werden. Und unsere Aufgabe ist es, unsere Haltung und das Umfeld so zu gestalten, dass beides auch gelebt werden kann.
In unserer Kategorie Hoch!Alt sammeln wir Wahrnehmungen und Geschichten darüber, wie es ist, mit hohem Alter und Einschränkungen im Leben unterwegs zu sein. Wir glauben, dass es wichtig ist, ganz genau hinzuschauen, damit wir gut miteinander unterwegs sein können. Wenn Sie auch solche Geschichten haben, lassen Sie es uns wissen!
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