Der Blog für die zweite Lebenshälfte

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Ausmisten – oder: der Preis der Selbstbestimmung

Veröffentlicht in: Älterwerden (im Selbstversuch), Andacht/ Spiritualität

Ich bin gerade so richtig in Schwung. Ich miste aus, was das Zeug hält. Säckeweise habe ich alten Schnickschnack, zu kleine Klamotten, alte Zeitschriften rausgeschleppt. Sogar die in Salzteig gedrückte Hand meines Kindes. Zugegeben: ein Paar Schuhe ist in der Verkleidungskiste gelandet. Das ist meine Alibikiste für Kleidungsstücke mit besonders hohem Erinnerungswert. Da ist immerhin auch der schwarze Cordsamthosenanzug mit Goldbordüre meiner Mutter drin, Original 70er. Und die Flatterkleider aus meiner Hippiezeit. Diese Kiste hatte ich schon, als noch kein Kind in Sicht war.
Szenenwechsel. Hausbesuch bei einer alten Dame. 87 Jahre ist sie, stark erblindet, das Gehör lässt nach und nun fürchtet sie auch noch Anzeichen von Demenz bei sich zu entdecken. Wegen der Behinderungen musste sie einen Betreuer bekommen. Allein das war schon ein Kampf. Denn sie hat ihr Leben immer selbst bestimmt.
Besagter Betreuer rät ihr sehr zum Umzug in ein Altenheim. Ehrlich gesagt, kann ich das nur unterstützen. Dann würde wenigstens der tägliche Kampf um den Einkauf, das Essen, das Aufräumen wegfallen. Vielleicht wäre sie abends nicht mehr so allein. Vielleicht würde jemand mit ihr spazieren gehen und sie müsste sich die Wege und Begegnungen nicht jeden Tag von neuem erobern. Aber nein: „Ich muss erst noch alles regeln“, sagt sie. Was denn noch (und ich weiß von vielem, was noch zu regeln wäre)? „Meine Bücher“, sagt sie als allererstes, “ da ist dieser Band von Ricarda Huch zum Beispiel.“ Sie zählt noch weitere Exemplare auf von Werken, die sie in ihren guten Zeiten mit Hingabe las. Und nun will sie keiner haben. Die Tochter nicht, Enkelin nicht. „Ich hab selber genug Bücher“, sagen die. Tja, ich will sie auch nicht haben. Diese Schätze werden im besten Fall im Antiquariat unterkommen. (Die Tochter von Freunden meiner Eltern sagt immer: „Wisst ihr, es ist mir ganz gleich ob ich dermaleinst drei oder vier Container bestelle.“)
Ich fühle diesem Kampf nach, diesem täglichen Abschiednehmen von den kleinen Dingen, die für das ganz Große stehen. Ich kann sie verstehen, die alte Dame, die am Morgen das Leben wegwerfen will und am Nachmittag ein Buchprojekt startet.

Ich habe ein Projekt begonnen „Practice aging as an art form“. Dieses Zitat von der Sänderin Beverly J. Scott fand ich mal irgendwo. Es hat mit Paradekissen zu tun. Die haben Sie sicher auch noch in Ihrem Schrank liegen, noch aus der Aussteuer, oder der Aussteuer der Mutter, der Großmutter. Mit Monogramm. Nie aufgezogen. Meine Mutter hat mir ihre Schätze gestern rausgegeben.

Demnächst mehr…


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