Ist die Demenz ein Geschenk?
Der gestrige Tatort „Gestern war kein Tag“ rund um eine Familie, die mit der Pflege des an Demenz erkrankten Schwiegervaters über ihre Grenzen kommt und die nachfolgende Sendung “ Anne Will“ zum Thema der illegalen Pflege, hat sicher auch Sie beschäftigt. Eindrücklich spielte Günter Maria Halmer den an Demenz erkrankten Schwiegervater, immer an der Grenze zwischen „ganz da“ und doch „nicht mehr von dieser Welt“. Sein regelmäßiger Spruch „Passt scho“ stand für seinen Willen zur Selbstbestimmung wie für das Überspielen der Unsicherheit, diese Welt doch nicht mehr ganz zu begreifen. Halmer gab zu dieser Rolle ein Interview.
Ein Punkt aus der anschließenden Diskussion bei Anne Will blieb mir besonders hängen, den eine Betroffene, Erika Weber, Jg 1955, gleich zu Beginn einbrachte. Sie pflegt ihren seit 9 Jahren an Demenz erkrankten Mann, einen ehemaligen Realschullehrer. Ihren Mann beschrieb sie als ihren „Schatten“, denn sie kann kaum einen Schritt gehen, ohne dass er ihr folgt. Sie hat verstanden, welche Orientierung er im Alltag sucht und von ihr bekommen kann. Sie hat sich Entlastung gesucht, damit sie ihren Kraftquellen nachgehen kann. U.a. ist sie Mitglied im Kirchenvorstand. Sie sagte, dass die Demenz ihnen beiden unerwartet ermöglicht, Nähe und Achtsamkeit für einander zu leben, die so vorher nicht da war. Ihr Punkt war (und ich weiß nicht, ob sie ihn noch einmal ins Gespräch bringen konnte, weil ich „Anne Will“ nie bis zum Ende schaffe), dass die Demenz unserer Gesellschaft auch Gutes bringen kann. Eine Verlangsamung, mehr Emotionalität und eben Nähe. „Eine Gesellschaft bekommt immer die Krankheiten die sie braucht“, sagte sie lächelnd. Provokativ? Ja, und visionär.
Im ebz versuchen wir genau diesen Blickwandel zu vollziehen: Welche Geschenke erhalte ich von dem, was mich herausfordert? Und wo sehe ich die Stärken eines Menschen – ganz gleich was ihn (und uns mit ihm) herausfordert. Wir versuchen aus dem Blickwinkel Gottes zu schauen, der zu seinen Geschöpfen sagt „Sehr gut!“ Und das gilt für alle. Provokativ?
Mehr zu unserem Ansatz schrieb ich im Rahmen einer Ausstellung von Bildern des an Demenz erkrankten Pfarrers Eberhard Warns.
Im Haus am Seimberg, Brotterode, ebenfalls ein Tagungshaus der EKKW findet im September eine Freizeit für Menschen mit Demenz und ihre pflegenden Angehörigen statt. Eine Auszeit für beide, bei guter Betreuung durch die Diakonie vor Ort.
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