Der Blog für die zweite Lebenshälfte

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„Von Bewohnern für Bewohner“: Kleine Erlebnisgeschichten gegen die Eintönigkeit im Altenheim

Veröffentlicht in: Ideen für Gruppen, NACHmachBAR

„Von Bewohnern für Bewohner“: Kleine Erlebnisgeschichten gegen die Eintönigkeit im Altenheim„Ein Tag ist wie der andere hier, glauben Sie mir!“ – Wirklich?
Wolf Lange (s. Portrait in diesem Blog) hat sich in seinem Ruhestand vorgenommen, statt wie bisher mit jungen nun mit alten Menschen zu arbeiten. Er begann zunächst mit der Begleitung einer Frau. Inzwischen hat er ein Leseprojekt im Altenheim entwickelt, das sogar EU – Kreise zieht. Seine Erlebnisgeschichten sind eine neue Entwicklung in seiner Begegnung mit den alten Menschen im Altenheim. Mich beeindruckt zweierlei: sein selbstorganisiertes freiwilliges Engagement, das sich durch sein aufmerksames Miteinander mit den BewohnerInnen ständig weiterentwickelt. Und bei den Geschichten wird diese Achtsamkeit deutlich, die das Besondere im Alltäglichen für uns und für die BewohnerInnen sichtbar macht. Ein echter Schatz.

Wolf Lange schreibt:

Vorbemerkung
Als ich im Mai 2008 ins Seniorenzentrum Gründau kam und meine ehrenamtliche Tätigkeit mit der Betreuung einer 97jährigen Frau begann, sagte eine der anderen Bewohnerinnen damals zu mir: „Ein Tag ist hier wie der andere – glauben Sie mir!“ Inzwischen habe ich diesen Satz von vielen Bewohnern gehört, aber ich weiß auch, dass er nicht für jeden Tag gilt und nicht für jeden Menschen. Anders gesagt: Wer nur mit diesem Satz über seine Zeit hier im Heim spricht, läuft Gefahr, wirklich nichts anderes mehr zu erleben als das Immergleiche; er gibt sich selbst möglicherweise keine Chance mehr, etwas Schönes, Überraschendes, Berührendes zu erleben. Ich glaube, Sie verstehen, was ich meine; deshalb habe ich auch die folgenden
Erlebnisgeschichten aufgeschrieben. Einige handeln von der Trauer über das Sterben von vertrauten Mitbewohnerinnen oder über kleine Fortschritte in der Beweglichkeit der eigenen Beine und Hände oder über die Vorfreude auf einen Besuch, aber auch über die bittere Enttäuschung bei ausgebliebenen,  ersehnten Besuchen. Die Erfahrung mit Besuchen und Besuchern ist überhaupt das wichtigste Thema dieser Berichte. Jedes der beschriebenen Erlebnisse ist einmalig, genau wie der Mensch, von dem es berichtet und genau so einmalig wie der Tag des Geschehens – der gestrige, wie der heutige und der morgige, eben wie jeder Tag.

Diese Texte handeln von Bewohnern des Seniorenzentrums Gründau und wurden alle innerhalb der vergangenen drei Jahre aus unterschiedlichen Anlässen geschrieben. Einige entstanden zu der Zeit, als ich noch in Rothenbergen wohnte, also mehrmals in der Woche Kontakte mit vielen Bewohnern hatte und eigene Beobachtungen machen konnte. Manchmal  habe ich zu meinen eigenen Beobachtungen Einzelheiten von anderen Personen erzählt bekommen; also brauchte ich hier nur Teile zusammenzutragen und aufzuschreiben. Manchmal handelt es sich um fast reine Diktate; dies gilt insbesondere für die im Frühjahr und Sommer 2011 entstandenen kurzen Texte. Alle Texte jedoch handeln von wirklichen Erfahrungen realer Menschen in unserer heutigen Zeit. Ich habe lediglich die Namen und die Geburtsdaten verändert; dies ermöglicht vielleicht der einen oder dem anderen unter den Lesern sich mit der dargestellten Person zu identifizieren, sich von den berichteten Gefühlen und Erfahrungen berühren zu lassen und ermöglicht vielleicht letztlich den eigenen, heutigen Tag etwas aufmerksamer zu erleben.

Als mir auffiel, dass im Frühjahr 2011 die Berichte relativ kurz wurden, habe ich versuchsweise das Konzept geändert: Ein neues Teilziel entstand, das der mündlichen Kommunikation dienen soll, dem gezielten Austausch von Erlebnissen und Gedanken. („Was haben Sie in der vergangenen Woche erlebt? Gibt es besondere Erinnerungen?“) Wir werden sehen, ob und wie unter dieser veränderten Situation schriftlich zu fixierende Berichte entstehen.

Isolde schreibt
Isolde (geboren 1921) wird – wie auch andere Bewohner ihrer Wohngruppe – eine Woche lang von zwei Mädchen besucht, die Schülerinnen der benachbarten Grundschule sind und mit den Bewohnern kleine Spiele mit Bändern und Bällen machen. Isolde freut sich jedes Mal so sehr über diese fröhlichen und freundlichen Kinder, dass sie ihnen ganz spontan zu ihrem letzten Besuch einen kleinen Dankesbrief schreibt und ein fröhliches Bild dazu malt. Als die beiden Kinder Brief und Bild dann in den Händen halten, sagt eines der Mädchen: „Sie können aber gut malen.“ Isolde freut sich sehr über diese Anerkennung. Später unterhält sie sich mit anderen über diese Mädchen und was sie zu ihr gesagt haben: „Wisst Ihr, am meisten wundere ich mich darüber, dass ich noch schreiben kann und dass diese Kinder meine Schrift sogar noch lesen können.“              (Sommer 2010)

 Roswitha lacht
Roswitha (geb. 1914) sitzt ganz traurig in ihrem Rollstuhl. Der Arzt hatte zu ihr gesagt: „Bis Sie wieder laufen können, sitzen Sie am besten in einem Rollstuhl.“ Mit dem Laufen klappt es gar nicht gut, aber sie ist auch nicht zufrieden mit dem Sitzen. „Wissen Sie, die Armlehnen sind zu hoch und ich sitze ganz schlecht,“ sagt sie zu dem viel jüngeren Besucher, der immer zum Singen kommt. „Möchten Sie denn gerne lernen mit dem Rollstuhl zu fahren?“ fragt er sie. „Die anderen fahren mich halt immer.“ Dann macht sie eine Pause, weil der Mann offenbar auf ihre Antwort auf seine Frage wartet. „Ja, wenn Sie mir das zeigen können.“ Er zeigt ihr, wie sie den Rollstuhl bewegen und steuern kann. „Spüren Sie mit beiden Händen das glatte Metall des Greifrades. Damit können Sie den Rollstuhl fahren. Wenn Sie mit beiden Händen das Greifrad nach vorne schieben, fahren Sie gerade aus. Wenn Sie mit der einen Hand das Greifrad halten und nur mit der anderen schieben, können Sie den Rollstuhl manövrieren und nach rechts oder links eine Kurve fahren.“ Er erklärt und zeigt es ihr. Sie spürt auf einmal, wie sie durch eigene Kraftanstrengung den Rollstuhl bewegen kann: Sie fährt bis zum nächsten Tisch, dreht wieder um und fährt zurück an ihren Platz. Dort lassen ihre uralten Finger das Metallrad langsam los und kommen zu einem Händeklatschen hoch. Roswitha lacht dazu.                                                           (Winter 2009/2010)
Gustaf ist vergnügt
Gustaf (geb. 1910) geht gerne spazieren, jeden Tag, einmal am Vormittag und einmal am Nachmittag und immer mit einem Stock. Er legt großen Wert auf seine Kleidung beim Spazierengehen außerhalb des Heims und trägt stets ein Jackett und einen Hut. Gustaf ist kein großer Redner, er hört gerne und freundlich lächelnd den anderen zu. Wenn er sich dann doch am Gespräch beteiligt, haben die anderen große Mühe ihn zu verstehen, weil seine Zahnprothese sehr locker sitzt. Also kann er gar nicht anders als ständig in seinem Bemühen zwischen dem Festhalten der Prothese und dem Sprechen zu schwanken – ein zutiefst unbefriedigender Vorgang. Aber dann wurde ihm eine Verbesserung seiner Situation angekündigt: Eine Zahnärztin würde kommen und sich seines Problems annehmen. Eines Tages – es ist der Tag des jährlichen Maifestes – ist die junge Zahnärztin am Vormittag zur Untersuchung im Heim, nimmt Gustafs obere Zahnreihe mit und verspricht sie am Nachmittag wieder zu bringen. Die Stunden des Wartens sind sehr unangenehm für Gustaf, sie sind viel schlimmer als die ganze lange Zeit davor, denn er traut sich nun nicht einmal mehr seinen Mund aufzumachen. Da alle nur seine fast zahnlose Mundhöhle sehen würden, bleibt er in seinem Zimmer, obwohl an diesem Bewohnerfest eine warme Sonne scheint und alle draußen sitzen. Da kommt endlich doch die Zahnärztin in sein Zimmer und hat die vom Zahntechniker reparierte Prothese dabei. „So, jetzt können Sie wieder zubeißen,“ sagt sie. „Und auch wieder sprechen?“, denkt Gustaf. Vorsichtig probiert er den Sitz mit Zunge und Lippen, nimmt auch seinen Daumen zu Hilfe. „Das Ding sitzt wie angegossen,“ denkt er und lacht. Dann geht er zu den anderen. Endlich. An seinem Tisch sitzen auch Bewohner aus anderen Wohngruppen. Da ist eine jüngere Bewohnerin des Heims, Hildegard (geb. 1924), die auf einmal neben ihm sitzt und ihn anlacht. Später als alle dann zum Ende des Festes aufstehen und zu ihren Zimmern gehen, hat sie sich bei ihm eingehängt und Gustaf genießt die späte Wärme. Nur zwei Tage später stürzt er und bricht sich ein Hüftgelenk. Er wird operiert, auch noch einmal ins Heim entlassen, stirbt aber nach wenigen Tagen. (Frühling 2010)

Gottfried erzählt
Gottfried (geb. 1917) ist traurig, weil er nun schon seit Monaten im Rollstuhl sitzt und einfach nicht mehr gehen kann. Ein Physiotherapeut kommt seit kurzem zweimal in der Woche, macht Gymnastik und läuft mit ihm. Als der viel jüngere Besucher anbietet mit ihm zu gehen und zusätzlich den Rollator noch zu nehmen, ist Gottfried unsicher und sogar ein wenig ängstlich. Der Mann macht das sicher anders als der Physiotherapeut, sagt sich Gottfried. Ob er das aber auch richtig macht, damit ich nicht falle, denkt Gottfried weiter. Da ist auf einmal auch der Pfleger Benno da; er ermutigt Gottfried und zeigt ihm, wie er seine Beinmuskeln kräftigen kann. Gottfried macht alles bereitwillig mit – es klappt immer besser. Er läuft dann zwei kleine Strecken mit seinem Rollator und kann eine Ruhepause in dem vom Pfleger mitgeführten Rollstuhl machen. „Meinen Sie, das hilft?“ fragt er den jüngeren Mann. „Ich glaube schon. Wenn Sie diese Übung häufig machen, werden Sie vielleicht Muskelkater bekommen. Dann dürfen Sie sich freuen; Ihre Muskeln zeigen Ihnen dann, dass sie mitmachen.“ Anschließend ist noch etwas Zeit bis zum Mittagessen, Zeit für ein Schwätzchen, aber es wird kein kleines Schwätzchen. Gottfried erzählt von früher, von seiner jüngeren Schwester und seinem verstorbenen älteren Bruder, von den Eltern und von seiner Kindheit und ist ganz vergnügt dabei. Und dies alles ist nur vom Laufen gekommen. „Wissen Sie, unser Garten grenzte damals an die Bahngeleise. Eines Tages – ich war vielleicht drei oder vier Jahre alt – bin ich über den Gartenzaun geklettert und auf den Bahndamm gestiegen. Da kam der Zug und hat gebremst. Der Zugführer und ein Polizist haben mich dann zu meiner Mutter gebracht. Sie war sehr besorgt und auch ärgerlich, als sie erfuhr, was passiert war. Ich aber sagte nur: >Ich habe nur die Haltestelle gespielt.< Und dann lacht er und muss sich nun eilen, um zu seinem Platz zum Essen zu kommen, denn die anderen sind bereits vollzählig da. (Sommer 2010)

 Isolde (geb. 1921) erzählt von „unserm Omache“
Gertrude, die einige Monate lang mir gegenüber saß, nannten wir auf hessisch das „Omache“; sie war nicht groß, hatte ganz dünne weiße Haare und ein kleines Gesicht. Sie war 97 Jahre alt und seit gut einem Jahr bei uns im Heim. Sie erzählte manchmal von ihren Kindern oder ihrer Enkelin Kirstin und war von einer ganz besonders freundlichen und lieben Art – eben ein „Omache“. Wegen einer schweren Bronchitis war sie kurz nach Weihnachten 2008 ins Krankenhaus gebracht worden und in den ersten Tagen dieses neuen Jahres wieder zurück gekommen. Im Krankenhaus hatte ihre Enkelin sie vor ihrem Urlaub häufig noch besucht; die letzten Tage vor der Entlassung war sie allein. An diesem Nachmittag, von dem ich erzählen möchte, war sie wieder ganz verwirrt: Sie saß zwar auf ihrem alten Platz mir gegenüber – die anderen waren auch da -, wusste aber anfangs gar nicht mehr, wer wir waren und was los war usw.  Sie rief immer wieder nur nach ihrer Enkelin Kirstin, blickte mit ihren großen aufgerissenen Augen in unsere Gesichter, versuchte den Raum hinter mir und hinter sich zu erkennen, rang fortwährend die Hände und jammerte ganz laut.
An diesem Nachmittag saßen wir alle schweigend vor unserem Kaffe und dem kleinen Stück Kuchen und hatten keine Lust zur Unterhaltung. Die Orientierungslosigkeit und die Verzweiflung der alten Frau belasteten uns sehr. Jedes Mal, wenn eine von uns aufstand um hinauszugehen, rief sie nur immer wieder „Nein! Nein!“ Ihr Stöhnen klang mir noch Tage danach in den Ohren.
Zum Glück kam heute Nachmittag wieder der junge Mann, der seit einiger Zeit zweimal in der Woche kommt, mit uns singt oder uns etwas vorliest oder einfach uns nur zuhört und mit uns redet. So war das ständige Jammern vom „Omache“ nicht so schlimm. Nach dem Kaffee fragte er uns, ob er uns ein Märchen vorlesen dürfte. Wir nickten nur. Ich höre seine Stimme gerne und mag seine Art, uns beim Vorlesen auch immer wieder anzuschauen. Er nahm ein dickes Buch aus seiner Tasche und las den Titel vor: „Der Wolf und die 7 jungen Geißlein“ und blickte aufmerksam in unsere Gesichter. Ich freute mich und die anderen auch. Das hatten wir lange nicht mehr gehört, obwohl es doch eines der bekanntesten Märchen ist. Er las dann ganz ruhig, hielt immer wieder inne, um uns der Reihe nach anzuschauen, wiederholte auch einmal eine Stelle, fragte nach einem Wort, einem Satz, nach einer Stelle in dem Märchen – z.B. „Wie geht es weiter?“ Dann fiel mir auf: Unser „Omache“ jammerte auf einmal nicht mehr; zwar waren die Augen noch aufgerissen, aber sie hielt den Kopf ruhig und schaute nicht mehr suchend um sich. Ihre Hände hielten einander fest geklammert. Ich hatte das Märchen schon ein paar Mal gehört, freute mich wieder über die erfolglose List des Wolfes, litt mit der Mutter Geiß um das Leben und die Gesundheit der Geißlein und fand die Bestrafung des Untieres am Ende völlig in Ordnung. Ich dachte dabei auch an meine Oma, die mir seinerzeit dieses und andere Märchen vorgelesen hatte, was wegen ihrer Arbeit auf dem Feld und im Stall selten genug vorkam.
Das Märchen kam zu seinem Ende. Ich war die erste, die das Schweigen brach, nachdem der junge Mann gelesen hatte: „Schön haben Sie wieder gelesen! Danke.“ Und auch meine Nachbarin Elsa aus der Großstadt sagte: „Ja, sehr schön war das.“ Dann sagte auf einmal der junge Mann zu ihr: „Elsa, du wirst 99 Jahre in diesem Jahr.“ Die freute sich über diese Bemerkung und lachte. „Und Sie“ – und er wandte sich nun an das „Omache“ – „Und Sie, wissen Sie, wie alt Sie in diesem Jahr werden?“ Ich erschrak etwas über seine Frage, glaubte nicht, dass das „Omache“ antworten würde. Er wartete ruhig auf sie. Sie sah ihn unentwegt an. Dann sagt sie langsam und mit Pausen: „Neun – sieben – neunundsiebzig – nein! – siebenundneunzig.“ Der junge Mann hielt etwas den Atem an, dann lächelte er meine Nachbarin an: „Elsa, du bist doch im August geboren, nicht wahr? Und Sie auch, nicht wahr?“ und wandte sich erneut an das „Omache“. Elsa nickte nur und dann hörten wir alle, wie das „Omache“ zu ihr sagte – langsam und sehr mühsam formuliert, aber unbeirrbar und von niemandem unterbrochen: “Sie – ist – fast – ein – Jahr – älter – als – ich .“ Zwei Tage später fehlte das „Omache“ beim Frühstück – sie war in der Nacht gestorben.                   (Winter 1999/2000)

Elisabeth (1927) lässt sich überraschen
Elisabeths berufstätige Tochter konnte in der vergangenen Woche nicht zu Besuch kommen, wegen verschiedener Termine in der Firma, sagte sie zu ihrer Mutter. „Ist schon in Ordnung,“ sagte Elisabeth, „ich kann das verstehen.“ Sie wollte und konnte aber dennoch ihre Enttäuschung nicht verbergen: “Du musst halt auch deine Arbeit machen. Du kommst dann also erst in der übernächsten Woche?“ Die Woche begann, die Tage vergingen, einer nach dem anderen, Elisabeth machte sich Gedanken: ‚Sie hat zwar gesagt, sie kann nicht kommen, aber sie könnte doch wenigstens anrufen. Warum lässt sie nichts von sich hören?‘ Elisabeth musste sich mit der Situation abfinden und gedulden, obwohl es ihr schwer fiel. Am Freitagnachmittag beim Kaffeetrinken geschah es dann: Sie saß auf ihrem gewohnten Platz am Ende des Raumes gegenüber dem Zugang zum Treppenhaus, aß zum Kaffee ihren Kuchen in kleinen Stücken und blickte zufällig hoch – und sah ihre Tochter auf sie zukommen. Elisabeth war überrascht, außerordentlich überrascht, denn genau in dem Augenblick hatte sie an sie gedacht, beim Kuchenessen. „Das muss eine Gedankenübertragung sein!“, rief sie ihrer Tochter entgegen. „Gerade hab‘ ich an dich gedacht, ganz intensiv, obwohl ich heute nicht mit dir gerechnet habe.“ „Was ist denn los, Mutti?“, ihre Tochter umarmte sie. „Ich bin doch jetzt da, da brauchst du doch nicht weinen.“ „Ich wein‘ doch gar nicht, siehst du, ich hab mich doch nur so gefreut, weil alles so schnell ging. Obwohl ich wusste, dass du heute noch nicht kommen würdest, habe ich doch gedacht, dass es vielleicht anders kommt.“ Dann lächelten Mutter und Tochter und erzählten einander, was es in der vergangenen Woche gab. Zum Abschied sagte Elisabeth noch: „Weißt du eigentlich, dass der Norbert mir gesagt hat, wenn er mit seiner Uschi demnächst nach Chile fliegt, dass er dann in diesen vier Wochen sich nicht bei mir melden will?“ Die Tochter nickte. „Ja, ja, ich weiß davon. So ist er halt, mein Bruder, aber er meint das nicht böse. Du sollst dir nur keine Sorgen machen.“ Elisabeth nickte. ‘Natürlich,‘ dachte sie, ‘das sagen die Kinder immer. Sie haben auch Recht. Aber trotzdem.‘ Und dann sagte sie laut zu ihrer Tochter: „Kind, ich glaub‘, er kommt dann in ein paar Wochen genau wie du heute, verstehst Du. Ich meine, auch bei ihm kann ich mich auf eine solche Überraschung freuen. Wäre das nicht schön?!“                  (Frühling 2011)

Ein Überraschungsbesuch für Martha (1931)
Es war ein Sonntagnachmittag, ein Tag der puren Langeweile. Heute würde keiner zu Besuch kommen, gestern waren bei der Rosi im Nebenzimmer gleich mehrere da, eigentlich zu viele, alle hatten es ja nur gut gemeint – wie immer – und sich wieder einmal nicht unter einander abgesprochen – wie immer. Heute blieben sie also zu Hause, alle, bei Rosi und bei ihr, Martha. Also saß auch Martha heute alleine in ihrem Zimmer, das Mittagessen war vorüber und das Geschwätz  in der üblichen Lautstärke war ihr schließlich zu viel geworden. Eine leise Unterhaltung nur mit einem Menschen würde ihr gut tun. Aber so – ?. Sie war daher sehr überrascht, als sie mitten in ihren trüben Gedanken hörte, wie jemand an ihre Türe klopfte. Sie antworte und erschrak, als sie ihren Neffen erkannte: „Werner, was ist denn passiert?“ Sie dachte an das Schlimmste; bestimmt war wieder jemand gestorben. „Nix ist passiert, wirklich nicht,“ setzte ihr Neffe hinzu, als er ihren erschrockenen Gesichtsausdruck sah. „Ich soll dich zum Kaffee abholen.“ – „Heute?“ – „Jetzt!“ – „Wirklich?“ Es war so. Der Neffe fuhr sie zur Familie und es wurde ein sehr schöner Sonntagnachmittag mit Kaffee und frischem Erdbeerkuchen mit Schlagsahne. Fast alle waren da – auch die Elfriede, die sie lange nicht mehr gesehen hatte. Und jeder erzählte von sich und den Kindern und Enkeln. Ein richtig gemütlicher Nachmittag! Und dann wurde es noch schöner: Sie sollte noch zum Abendessen bleiben! Natürlich dachte sie sofort an das Heim, man musste denen doch Bescheid sagen. Irgendjemand übernahm das dann und so konnte Martha in aller Ruhe und Gelassenheit auch noch den Abend bei ihren Leuten bleiben. Was für ein schöner Sonntag war das! (Mai 2011)

Wolf Lange, Mai-Juni 2011

u.w.del-la@t-online.de


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