Der Blog für die zweite Lebenshälfte

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another year-another life/ Älterwerden im Film

Veröffentlicht in: Bücher/Filme

another year-another life/ Älterwerden im FilmMike Leighs (Regisseur von Secrets & Lies) neuer Film „Another Year“ wird als stille Kommödie angekündigt. Das zu erkennen gelingt vielleicht nur, wenn man das britische Original hört. Der Film hinterlässt bei mir (statt der angekündigten Wärme) eine Kälte und jede Menge Fragen. Dann ist es vielleicht doch ein guter Film.  Ein älteres Ehepaar, Tom und Gerri, kurz vor dem Ruhestand, Gartenliebhaber, ein glückliches Paar, dem nur noch eins fehlt: die Schwiegertochter für die ersehnten Enkel. Ihr zufriedenes Leben ist die Folie, vor der wir mehrere gescheiterte Existenzen vorgeführt bekommen. Bis an die Schmerzgrenze: Mary, die eigentliche Hauptperson, um die 50, eine Arbeitskollegin Gerris, deren Einsamkeit sich in Hyperaktivität und Alkoholkonsum ausdrückt. Ken, der alte Kumpel von Tom, wie Mary immer wieder Gast bei Tom und Gerri,  freundschaftlich liebevoll umsorgt. Ken könnte in Ruhestand gehen. Will aber nicht, denn was bliebe dann? Noch mehr Pub-Besuche, essen, rauchen.
Die Kamera begleitet Tom und Gerri durch die 4 Jahreszeiten. Wohltuend die stillen Bilder aus dem Garten, der wie ein Gemeinschaftsgarten immer mal weitere Gärtnerinnen zeigt: im Sommer eine schwungvolle Frau um die 30, im Herbst sinnfällig eine alte Dame, die auf einem Stuhl sitzend prallrote Tomaten erntet. Der Garten ist die Kraftquelle von Tom und Gerri, die Früchte dieser stillen regelmäßigen Arbeit nähren auch Freunde und Familie.

Warum wurde mir das Idyll zunehmend und nachhaltig unangenehm? Ist dieses stille selbstgeschaffene  Glück anstößig? Für mich wird es das da, wo die Psychologin Gerri ihre Kollegin in ihrem tiefen Unglück nur hinnimmt. Mary, die rastlos auf der Suche nach Liebe ist, unfähig auf andere zuzugehen, versackt in Selbstmitleid, unerträglich in dem Wahn, dass ein kleines rotes Auto, auf das sie hinspart, ihr die Erlösung bringen wird. Fast wäre ich zwischen Sommer und Herbst gegangen. Nicht zu ertragen der Suff, der Schweiß, das Qualmen („eigentlich rauche ich ja nicht“), die Fahrigkeit.

Nicht zu ertragen die Platitüden, die die Briten sich hin und her schieben, ohne, dass irgendetwas passiert: wie geht´s? Gut (ein weiteres Bier wird geöffnet), richtig gut (das Glas Wein wird halb geleert).

Sieht so das Leben um die 50 aus? Wie bei Mary… weiß Gott, ich habe schon ähnlich Suchende, Verzweifelte getroffen. Wo der Sinn des Lebens nur  in einer Beziehung liegen kann?
Sieht so das Leben um den Ruhestand aus? Wie bei Ken … was soll noch kommen, wenn das Leben ohne Arbeit weder Struktur noch Inhalt hat?
Sieht so das Ende aus? Wie bei Ronny, Tom´s Bruder, der auf die Frage, ob seine verstorbene Frau nett war, lieber nichts sagt und mit der Wut des Sohnes, der die Beerdigung seiner Mutter verpasst, nicht umzugehen weiß.

Das sind also die Fragen, die auch Mary sich stellen wird, als sie schließlich ungeschminkt ihr eigentliches Alter zeigt und die Kamera sie in Stille verlässt.

Der eigentliche Schlüssel zur Betrachtung dieser Altersbilder liegt am Anfang.

Eine Frau aus der britischen Arbeiterklasse will von ihrer Ärztin nur eins: Tabletten, damit sie endlich schlafen kann. Zur Psychologin Gerri überwiesen ist sie ratlos angesichts der Fragen, die man ihr stellt. Plötzlich, gefragt, was sie sich vielleicht an Änderungen wünsche, platzt sie heraus „another life“. Ein anderes Leben. Ein Jahr wie jedes andere – aber bitte kein Leben wie dieses. Another year – another life.  Das Wortspiel ist unübersetzbar.

Wie also soll es aussehen dieses andere Leben? Das ist die eine Frage, die wir mitnehmen. Was gibt dem Leben Sinn?  Liebe, Beziehungen, Arbeit, für Freunde da sein, Zufriedenheit?

Und eine andere, noch beklemmender: Soll ich meine Freunde, Nachbarn, Arbeitskollegen konfrontieren mit dem was sie an ihrem Leben hindert? Gerri tut dies nur einmal ganz am Schluss, als sie Mary auffordert, Verantwortung für ihr Leben zu übernehmen und sich professionelle Hilfe zu holen. Wieso erst dann?

Und wie mache ich das?

Könnte man sich diesen Film mit anderen zusammen ansehen? In der Gruppe? Ja, aber nur, wenn der Tisch anschließend ordentlich gedeckt, das Brot frisch und die Tomaten saftig sind.  Statt Wein vielleicht Wasser, oder doch Wein? Und wenn Sie bereit sind, sich den wesentlichen Fragen zu stellen und erst spät heimzugehen.


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